Mensch sein!


März 2021

Mensch sein!

Text und Stimme: Anna Schneider

Ich will Mensch sein
gerade jetzt in dieser Zeit
weiß aber gar nicht mehr
was Mensch sein eigentlich heißt

Herbert hat gesagt
der Mensch heißt Mensch
weil er irrt und weil er kämpft
und weil er hofft und weil er liebt
weil er mitfühlt und vergibt
und weil er lacht und weil er liebt

Aber das fehlt

Denn wenn ich Dich frage was Mensch sein heißt
dann sagst Du nur Dinge
die in meinen Ohren gar nicht nach Mensch sein klingen

Du sagst ich soll Abstand halten
damit Du Dich nicht infizierst
denn Abstand heißt Nähe

Ich soll eine Maske tragen
damit mein Atem Dir Deinen nicht raubt
denn Masketragen heißt Nächstenliebe

Ich soll Kontakte reduzieren
damit meine Kontakte
ihre reduzierten Kontakte nicht infizieren
denn Kontakte reduzieren heißt Solidarität

Ich soll mich nicht alternativ informieren
weil alle anderen als Du Lügen erzählen
nur Dir vertrauen sonst bin ich wirr

Ich soll meinen Nachbarn an Dich verraten
wenn er etwas getan hat was Du verboten hast
denn Petzen heißt andere schützen

All diese Dinge hab ich ganz anders gelernt
Mensch sein ist sich nahe sein
sich spüren und einander zuhören
denn Nähe heißt Nähe

Ich will Dir nicht ausweichen und mich von Dir entfernen
Ich hab Dich gern und will Dir das zeigen
Dich in den Arm nehmen und Deine Menschlichkeit spüren
Mensch sein kann man nicht nur spüren
sondern auch sehen

Es ist das Lächeln um Dir zu zeigen dass ich Dich gern hab
durch ein Lächeln oder eine gute Tat zeige ich Nächstenliebe
nicht indem ich meinen Mund verhülle

Nächstenliebe ist Nächstenliebe
und keine Maske damit ich Dich vielleicht nicht infiziere

Ich will Dich sicherlich nicht infizieren
doch genauso wenig möchte ich meine Kontakte reduzieren
denn gerade die vielen Menschen die mir begegnen machen mich stark

Menschen sind einander nahe und sind gern zusammen
das gehört zum Menschsein schon immer dazu
aber dann kann man sich ja infizieren sagst Du
doch auch das ist keine Seltenheit

Krankheiten und die Menschen selbst sind die einzigen wirklichen Feinde der Menschheit
Menschen sterben auch
das ist normal
es ist zwar traurig
aber keiner hat wirklich die Wahl

Sollten wir dann nicht lieber das Leben feiern
von uns die sind
und von denen die waren
damit diejenigen die sein werden wissen was Mensch sein ist
woher sollen sie das wissen wenn alles verboten was menschlich ist

Wir dürfen einander nicht anlächeln und nicht berühren
keine Nähe mehr spüren
uns nicht begegnen nicht singen und tanzen
in einigen Läden ist sogar das Sprechen verboten
damit niemand stirbt

Doch ich frage Dich
was ist menschlicher als der Tod
wenn wir noch nicht mal das dürfen
der Mensch darf nicht mehr in Würde sterben
allein und isoliert ist er wenn das Leben ihn verlässt
kein Wort des Abschieds keine Nähe
denn das ist gefährlich

Aber ist nicht das Leben selbst tödlich
sollten wir dann nicht lieber das verbieten
bevor jeder Tote getestet und alleingelassen benutzt wird
um die Massen zu kontrollieren
damit keiner hinguckt wo es wirklich brennt

Du hast den Kontakt zu Dir selbst verloren
und brauchst andere die Dir sagen wie Mensch sein funktioniert

Sie sagen Dir
dass Du Dich infizierst
und dass das überall passiert

Sie sagen Dir
dass Menschen die hinterfragen
in diesem Land nichts mehr zu sagen haben sollten

Sie sagen Dir
Angst ist menschlich und das ist sie sicherlich
aber nicht vor jedem Menschen der Dir begegnet

Sie sagen Dir
dass Du für den Tod von anderen verantwortlich bist
wenn Du Dich nicht an das hältst was sie Dir sagen

und Du …

hast ihnen geglaubt
und bist so ein Mensch der nur noch von zu Hause für andere Menschen kämpft
für wen
das weißt Du nicht

Die Pandemie hat kein Gesicht
im Grunde kämpfst Du nur noch für Dich
und hast aufgehört zu hoffen
die da oben irren sich schließlich nicht

Du hast aufgehört das Leben zu lieben
weil es Dir Angst macht
es macht Dir Angst ein Mensch zu sein
es macht Dir Angst zu sterben
und weil Du jeden so behandelst als könnte er Dich infizieren
hast Du aufgehört mit den Menschen mitzufühlen

Denn jeder ist der Feind den es zu bekämpfen gilt
und im Krieg verschließt der Mensch die Augen vor dem was mit dem Feind geschieht

Wenn Du Deine Augen wieder aufmachst
dann siehst Du was Deine Kriegsführung angerichtet hat

Da ist ein Künstler der keine Bühne mehr hat
weil keiner ihn sehen ihm zuhören will
weil jeder Angst hat

Da ist ein Mann der seine Arbeit verloren hat
sein Geschäft ist geschlossen nicht genug Umsatz nicht genug Kunden
weil jeder Angst hat

Da ist eine Mutter die von zuhause arbeitet
mit zwei Kindern die den ganzen Tag schreien und niemand der sie entlastet
weil jeder Angst hat

Da ist das Mädchen das vom Vater geschlagen wird
sie kann nirgends hin denn alles ist zu es gibt niemanden der ihr hilft
weil jeder Angst hat

Da ist der Junge er darf nicht zur Schule darf seine Freunde nicht sehen
er macht wieder ins Bett keiner der mit ihm spielt
weil jeder Angst hat

Da ist die Oma im Pflegeheim
sie ist allein keiner darf zu ihr keiner darf sie berühren keiner kommt
weil jeder Angst hat

Da ist ein Mann der letzte Nacht gestorben ist
keiner war bei ihm keiner hörte sein Flehen er musste allein sterben
weil jeder Angst hat

Da ist der Mann der aus Angst vor dem Virus keinen Ausweg sah und sich das Leben nahm
keiner der ihn beruhigte
weil jeder Angst hat

Und da bin ich
die fragt ob es keinen anderen Weg gibt
einen bei dem keiner Angst hat
einer bei dem nicht so viele Leben kaputt gehen
einer bei dem wir wieder Mensch sein können
denn es gibt Menschen die hinsehen und sagen wir könnten einen anderen Weg gehen

und was sagst Du?