Die Dringlichkeit einer Transformation


Juni 2021

Aus Eckhart Tolle „Eine neue Erde. Bewusstseinssprung anstelle von Selbstzerstörung“ (2005) 

Die Dringlichkeit einer Transformation

Wenn eine einzelne Lebensform  –  oder eine Spezies  –  mit einer tief greifenden Krise konfrontiert ist, wenn die alte Seinsweise, die alte Art des Umgangs miteinander und mit der Natur nicht mehr funktioniert und das Überleben von schier unüberwindlichen Problemen bedroht scheint, verendet sie und stirbt aus, oder sie geht mit einem evolutionären Sprung über die Grenzen dieses Zustands hinaus.

Es wird angenommen, dass sich die ersten Lebensformen der Erde im Meer entwickelten. Während an Land noch keine Tiere zu finden waren, wimmelte es im Meer bereits von Leben. Irgendwann muss sich dann ein Meereslebewesen auf trockenes Land gewagt haben. Vielleicht ist es zuerst nur ein paar Zoll an Land gekrabbelt, um erschöpft von der enormen Anziehungskraft der Erde wieder ins Wasser zurückzukehren, wo die Schwerkraft fast nicht zu spüren ist und das Leben leichter fällt. Aber es muss immer wieder ein Geschöpf den Versuch gemacht haben, bis es sich viel später an ein Leben auf dem Land anpasste und aus seinen Kiemen eine Lunge bildete und aus seinen Flossen Füße. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass sich eine Spezies in solch eine feindliche Umgebung vorwagt und eine evolutionäre Wandlung durchmacht, ohne durch eine bestimmte Krisensituation dazu gezwungen worden zu sein. Vielleicht ist ein großer Teil des Meeres vom Hauptozean abgeschnitten worden und sein Wasser über die Jahrtausende allmählich verdunstet, sodass de Fische ihr früheres Habitat hinter sich lassen und sich weiterentwickeln mussten.

Auf eine tief greifende Krise, die das Überleben aller bedroht, zu reagieren  –  das ist die Herausforderung, vor der die Menschheit jetzt steht. Die Gestörtheit des menschlichen Egogeistes, die schon vor 2500 Jahren von den alten Weisheitslehrern erkannt wurde und die jetzt durch Wissenschaft und Technik überdeutlich zu Tage tritt, bedroht erstmalig das Überleben der Erde. Bis vor kurzem war die Transformation des menschlichen Bewusstseins  –  auf die ebenfalls die alten Lehrer schon hingewiesen haben  –  nichts als eine Möglichkeit, die einige wenige Menschen hier und da ungeachtet ihres kulturellen oder religiösen Hintergrunds ergriffen. Zu einem weit verbreiteten Aufblühen des menschlichen Bewusstseins kam es noch nicht, weil es noch nicht zwingend erforderlich war.

Ein bedeutender Teil der Weltbevölkerung wird bald erkennen  –  falls er das nicht schon getan hat  -, dass die Menschheit jetzt nur noch eine Wahl hat: Weiterentwicklung oder Tod. Ein noch relativ kleiner, allerdings schnell wachsender Prozentsatz der Menschheit erlebt bereits im eigenen Innern den Zusammenbruch der alten Egodenkmuster und das Erscheinen einer neuen Bewusstseinsdimension.

Was jetzt im Entstehen begriffen ist, ist kein neues Glaubensbekenntnis und keine neue Religion, keine neue spirituelle Ideologie oder Mythologie. Wir stehen vor dem Ende nicht nur der Mythologien, sondern auch der Ideologien und Glaubenssysteme. Der Wandel geht tiefer und weit über den Verstand und das Denken hinaus. Tatsächlich ist im Kern des neuen Bewusstseins die Transzendenz des Denkens bereits angelegt, die neu zugängliche Fähigkeit, sich über das Denken zu erheben und eine Dimension in sich selbst zu entdecken, die unendlich viel umfassender ist als das Denken. Dann beziehen wir unsere Identität, den Sinn für uns selbst und das, was wir sind, nicht länger aus dem unablässigen Strom des Denkens, das wir in dem alten Bewusstsein für uns selbst halten. Welch eine Befreiung, sich darüber klar zu werden, dass die „Stimme im Kopf“ gar nicht ich bin! Wer bin ich dann? Der, der dieses erkennt. Die Bewusstheit, die dem Denken vorausgeht, der Raum, in dem das Denken  –  bzw. die Emotion oder Sinneswahrnehmung  –  auftritt.

Das Ego ist nichts weiter als die Identifikation mit der Form, und zwar in erster Linie mit Form im Sinne von Gedankenformen.

Wenn das Böse eine Realität ist  –  und es besitzt eine relative, wenn auch kein absolute Wirklichkeit  -, dann ist das auch seine Definition: die vollständige Identifikation mit Form  –  physischen Formen, Gedankenformen, Gefühlsformen.

Durch diese Identifikationen sind wir blind für unsere Verbundenheit mit dem Ganzen, für unser essenzielles Einssein mit allem „anderen“ und mit dem Ursprung. Diese Blindheit oder Vergesslichkeit ist die Erbsünde, das Leiden, die Täuschung. Und wenn diese eingebildete Getrenntheit alles, was wir denken, sagen und tun, beeinflusst und regiert, was für eine Welt erschaffen wir dann? Um darauf eine Antwort zu finden, brauchen wir bloss einmal darauf zu achten, wie die Menschen miteinander umgehen, oder ein Geschichtsbuch lesen oder die Tagesnachrichten im Fernsehen anzuschauen.

Wenn die Strukturen im Geist des Menschen unverändert bleiben, werden wir im Wesentlichen die gleiche Welt, die gleichen Übel, die gleiche Störung stets neu erschaffen.

Es geht also darum, die Identifikation mit der Form zu durchschauen und allmählich aufzulösen. Nicht in der Zukunft, sondern jetzt.

Aus dem letzten Kapitel des Buches:

„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde“, heißt es in der Offenbarung des Johannes. Das Fundament einer neuen Erde ist ein neuer Himmel  –  das erwachte Bewusstsein. Die Erde  –  die äussere Wirklichkeit  –  ist nur dessen äußeres Spiegelbild. Die Entstehung eines neuen Himmels und damit auch einer neuen Erde ist kein Zukunftsereignis, das uns befreien wird. Nichts wird uns frei machen, weil uns nur der gegenwärtige Augenblick frei machen kann. Diese Erkenntnis ist das Erwachen.