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Niedergang des ökonomischen Paradigmas

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oder

Wider die wilde Weltwirtschaft

 

Ein häretischer Essay von Lucien Majrich

Inhalt

1. Einstimmung und Vision

Teil 1 Der reduzierte Mensch

2. Kosmischer und historischer Zugang

3. Gegenwärtige Situation

3.1 Anpassung und Sinnverlust

3.2 Unklarheit und Oberflächlichkeit

3.3 Überforderung und Angst

3.4 Kritische Stimmen

3.5 Standort zum Sterben –
Eine fiktiv-realistische Geschichte

Teil 2 Südliches Blütenland

4. Alternativen

4.1 Die Botschaft der Indianer

4.2 Abendländische Reflexion

4.3 Orientalische Impressionen

4.4 Was der Hahn mir erzählte –
Eine persönliche Geschichte

Anmerkungen

Literatur


1. Einstimmung und Vision

Wir leben in einer Zeit des Umbruchs. Alte Ordnungen lösen sich auf und neue, meist unbekannte, geben noch keinen Halt. Es wäre bequem, angesichts der kommenden Schwierigkeiten die Augen zu verschließen und in dem alten Gefühl zu versinken, die vertraute Welt mit ihrer Routine werde schon Sicherheit bieten und durch die Zukunft weitertragen. Aber das gelingt nicht. Wie auf einem Wasserfall würde man aus einer Erschütterung in die nächste fallen, bis man endlich aufgerüttelt würde – sofern man den letzten Aufprall überlebt hätte. Daher ist es besser, nun gleich die Augen zu öffnen – soweit wie möglich – und genau hinzuschauen, was gerade geschieht. Dabei wird das Bewusstsein der eigenen Lage und des eigenen Weges immer klarer und intensiver. Man wird spüren und erkennen, dass und wie die eigene persönliche Geschichte in die Geschichte der Menschheit eingebettet ist und das beide eigentlich der gleiche Fluss sind. Die Krisen des eigenen Lebens bekommen einen spürbaren Sinn und mit zunehmendem Bewusstsein wächst die Kraft und das Verlangen, sowohl die eigene Welt als auch unsere gemeinsame, gesellschaftliche Umwelt neu zu gestalten. Wenn dann das Handeln im privaten Bereich und die Arbeit in der Gesellschaft als die gleiche, neu erschaffende Tat begriffen wird, wenn also die alten Trennungen der Lebensbereiche und im eigenen Denken verschwinden, werden sich unbekannte Horizonte eröffnen und man wird die gesuchte Sicherheit und Geborgenheit in einer umfassenden, unaussprechlichen Kraft finden.

Die folgenden Absätze sind zwischen 1999 und 2002 geschrieben, zum Ausklang des alten Jahrtausends und zum Beginn des neuen. Die darin zusammengetragenen, in vielen Jahren gesammelten eigenen Einsichten und Beobachtungen – die angeführten Bücher bilden nur eine nachträgliche Bestätigung – sind wie kleine Mosaiksteine, die aufmerksam machen sollen und vielleicht den Wunsch erwecken, die angebotenen Bruchstücke zu einem ebenso eigenen, ganzen Bild zu erweitern. Daher sind diese Betrachtungen keine geschlossene Abhandlung, sondern eher ein Entwurf oder ein Versuch. Doch ein flüchtiges Lesen wäre sinnlos. Viele Gedanken brauchen ihre Zeit zum Wirken und erschließen sich erst bei längerem Verweilen. Es wäre stimmig, wenn man beim Lesen spüren würde, dass es an jeder Stelle möglich und notwendig ist, noch weiter in die Tiefe zu gehen. Aber diese Vertiefung muss eine eigene Tat sein, denn nur so bekommt sie einen wirklichen Wert und befähigt zu haltbarem Handeln, das sich nicht mehr beirren lässt. Nur das Bild, das aus dem eigenen Inneren stammt und nicht von außen vorgesetzt wurde, ist wirklich überzeugend und kann das eigene Handeln tragen. Also sollen alle diese Gedanken dazu dienen, das eigene Denken zu beleben, es zu befreien und vielleicht zu beflügeln. Wenn man die eigenen Gedanken frei zulässt und ein Gespür für die innere Wahrheit entwickelt, wird man unweigerlich Schritte auf dem eigenen Weg gehen und darüber staunen, wie wunderbar er ist.

Im ersten Teil wird ein kritisches Licht auf unser Gesellschaftssystem geworfen. Eine Kultur der Oberflächlichkeit beherrscht zunehmend unsere Welt und verflacht unser Leben. Wie kann ein Mensch darin sich selbst bewusst werden? Um diese Frage kreisen alle folgenden Betrachtungen. Wie jedes nach Glück strebende Wesen muss der Mensch sich zunächst von seinen Fesseln befreien. Dazu wird ihm nüchtern und schonungslos ein Spiegel vorgehalten, denn er hat sich über Jahrhunderte vom schönen Schein seiner Fesseln blenden lassen und sie vermeintlich liebgewonnen. Eine schmerzliche Trennung ist unvermeidlich.
Im zweiten Teil folgt ein gewisser Ausgleich und eine Vereinigung. Die Ideen zu einer anderen Welt sind aber nur angedeutet und lassen der Intuition einen Freiraum, sie mit eigenen Farben zu füllen. Gefühlsmäßige Resonanz gibt diesen Mosaiksteinen erst ihren Sinn. Hier geht es um die größte Tiefe und um die größte Befreiung.

Unser Gesellschaftssystem nennt sich Demokratie, was Volksherrschaft bedeutet. Das erscheint jedem selbstverständlich und doch nimmt man es hin, dass die wesentlichen politischen Entscheidungen nicht offen vom Volk getroffen werden, sondern Ergebnis eines meist geheimgehaltenen Prozesses sind, dessen eigentliche Gründe und Motive hinter offiziellen Kulissen verborgen bleiben. In Wirklichkeit herrscht nicht das Volk, sondern das wirtschaftliche Interesse einer kleinen Bevölkerungsgruppe. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die Bewusstseinslage der Bevölkerung, dass solche Widersprüche ohne öffentlichen Protest hingenommen werden und dass man sich vielmehr daran gewöhnt hat, mit ihnen zu leben, so dass sie kaum noch wahrgenommen werden. Diese Einschränkung der Wahrnehmung ist bereits eine Folge der Herrschaft der Ökonomie, die mit allen Mitteln daran arbeitet, den Menschen zu einem reibungslos funktionierenden Teilchen des Systems auszurichten und zu erziehen. Diese Beeinflussung geht bis ins Unbewusste und erzeugt damit eine Ohnmacht des Menschen, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Daher muss jede gesellschaftliche Befreiung zuerst an dieser unterschwelligen Manipulation ansetzen und deren Mechanismen aufdecken.

Das Verhängnisvolle dieses Systems ist, dass die Menschen es verlernt haben, sie selbst zu sein und dies gar nicht mehr merken. Überall, besonders bei der Arbeit und auch im Privatleben, werden Rollen gespielt, die schon so selbstverständlich geworden sind, dass sie als Verstellung und Unterdrückung des eigenen Wesens nicht mehr auffallen. Und wenn eine Krise doch das Bewusstsein aufrüttelt, sind die Sachzwänge meist schon so groß, dass man es nicht wagt, den alten Weg zu verlassen.
Daher ist es wertvoll, Gemeinschaften zu schaffen, wo Rollenspiele nicht notwendig sind und die Menschen sich gegenseitig anregen, aus sich selbst, aus der alten Rolle herauszutreten und es zu wagen, sich frei und echt zu verhalten. Dabei erkennen sie ihre eigenen wertvollen Seiten und werden empfänglich für das Wesen anderer Menschen. Erst wenn man sich gleichwertig mit seinen Mitmenschen fühlt, kann eine Nächstenliebe entstehen.
Die alten Ideale der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit warten immer noch auf ihre Verwirklichung. Die Gleichheit und Brüderlichkeit einer Gemeinschaft bringen die Freiheit des Denkens und Fühlens hervor, diese gebiert die Freiheit des Verhaltens und in allen zugleich offenbart sich die zeitlose Freiheit der Seele und des Bewusstseins. Erst ein so zu sich gekommener Mensch ist ein wahrer Mensch unserer Zeit. Das Licht seines Ursprungs erleuchtet durch ihn seine Welt.

 

Teil 1 Der reduzierte Mensch


2. Kosmischer und historischer Zugang

Wenn ein unbefangenes, mit Bewusstsein begabtes Lebewesen die Erde betrachten würde – am besten vom Blickwinkel eines anderen Planeten – was würde ihm auffallen und am meisten zu denken geben? Als Lebewesen würde es natürlich die Belebtheit der Erde wahrnehmen, eine Resonanz zwischen allem Lebendigen spüren, und es würde sofort auch eine tiefe Dissonanz in der lebendigen Hülle des Planeten bemerken. Es würde Mikroorganismen, Pflanzen, Tiere und Menschen sehen und einen Widerspruch in den Gesetzen des Verhaltens der Menschen einerseits und der übrigen Lebewesen andererseits feststellen. Auf der sichtbaren Ebene ist der Mensch überlegen: er nutzt Tiere und Pflanzen für sich und entscheidet über Sein und Nichtsein ganzer Arten; auf einer subtilen Ebene jedoch ist er unterlegen: er beherrscht nicht die Gesetze, die zur Selbsterhaltung lebendiger Organisationen nötig sind, und bereitet mit seiner Lebensweise den eigenen Untergang vor.

Nachdem das beobachtende Lebewesen den Menschen als Verursacher des Widerspruchs ausgemacht hätte, würde es diese Gattung näher betrachten und einen ähnlichen Widerspruch feststellen: eine kleine Minderheit genießt Wohlstand und beherrscht den Rest der Welt, sie beutet ihn aus und infiziert ihn mit Konflikten, so dass der ganze Planet mit Kriegen und Gewalttaten überzogen ist. Diese Gattung ergibt ein elendes Bild, sie macht sich selbst das Leben schwer. Nun würde das Lebewesen seinen Blick auf jene Minderheit fokussieren und sich fragen, warum sich diese so verrückt verhält. Es würde herausfinden, dass der Mensch in seinem Verhalten von inneren Vorstellungen und Werten geleitet wird, und auf dieser Ebene würde es seine eigentliche Untersuchung beginnen.

Die inneren Bilder und Werte sind zu vielschichtig und reichen zu weit ins Unbewusste, als dass sie erschöpfend in Worte gefasst werden könnten. Man muss sich mit einer Auswahl begnügen. Einen roten Faden, der sich sowohl geschichtlich als auch im einzelnen Leben verfolgen lässt, bilden die ökonomischen Werte, die eine zentrale Rolle bei der Gestaltung der Außenwelt spielen. Ökonomie als Haushaltung mit begrenzten Ressourcen scheint ein notwendiges Merkmal eines jeden materiellen Lebewesens zu sein, das auf einen Stoffwechsel angewiesen ist. Auch Tiere und Pflanzen haushalten, haben jedoch keine ökonomischen Werte. Das zeigt, dass eine ökonomische Ideologie keineswegs so grundsätzlich notwendig ist, wie sie oft erscheint. Der Mensch mit seiner Fähigkeit zur Reflexion hat Werte geschaffen, die sich verselbständigt haben und ihm wie eine fremde Macht entgegengetreten sind.

Diese Entfremdung kann jeder in unserer Gesellschaft spüren. Nachrichten über Einsparungen in allen möglichen Bereichen sind alltäglich geworden. Anscheinend sind alle damit unzufrieden, auch die Verantwortlichen, aber es heißt immer, dass es keine Alternative gäbe. Der ökonomische Sachzwang ist zum obersten Herrscher der Gesellschaft geworden. Wenn im Mittelalter ein Volk hungern musste, weil eine Naturkatastrophe die Ernte vernichtet hat, war die Ursache klar. Die heutigen Sachzwänge entziehen sich jedem Zugriff, niemand scheint sie in dieser Form gewollt zu haben, und doch kann jeder spüren, dass hier nicht die Natur am Walten ist, sondern dass es sich um ein Menschenwerk handelt und dass darin eine Unstimmigkeit enthalten ist. Wie ist es dazugekommen?

Im Abendland hat das ökonomische Denken immer eine wichtige Rolle gespielt – schon in der Antike wurden seinetwegen Kriege geführt – aber es stand nicht immer an erster Stelle; zumindest nicht offiziell. In den Jahrhunderten der Herrschaft der christlichen Kirche war der oberste Wert aufs Jenseits gerichtet – mit greifbaren gesellschaftlichen Auswirkungen: die Mehrheit der Bevölkerung, die nicht über Macht und Besitz verfügte, war bereit, sich ausbeuten zu lassen, weil sie auf eine Wiedergutmachung in einer anderen Welt hoffen konnte.
Auch das rationale Denken war eingeschränkt: als einzig gültige Quelle der Erkenntnis waren Autoritäten und heilige Schrift zugelassen. Sinnliche Erfahrung der Materie hatte keinen Wert. Das Denken wurde in ein starres System der scholastischen Gesetze gezwungen. Der wissenschaftliche Ausbruch aus diesem Paradigma markiert den Beginn der Neuzeit. Francis Bacon formulierte es seinerzeit so:
“ Zwei Wege zur Erforschung und Entdeckung der Wahrheit sind möglich. Auf dem einen fliegt man von den Sinnen und dem Einzelnen gleich zu den allgemeinsten Sätzen hinauf und bildet aus diesen, als der unerschütterlichen Wahrheit, die mittleren Sätze. Dieser Weg ist jetzt im Gebrauch. Der zweite zieht aus dem Sinnlichen und Einzelnen Sätze, steigt stetig und allmählich in die Höhe und gelangt erst zuletzt zu dem Allgemeinen. Dies ist der wahre aber unbetretene Weg.“1

Inzwischen ist der Weg breit- und festgetreten. Bruno, Kopernikus, Galilei, Descartes u.a. waren die Wegbereiter und haben dafür oft teuer bezahlt. Galilei hat das Prinzip aufgestellt, welches unsere Zeit regiert: „Messen, was messbar ist, und messbar machen, was nicht messbar ist.“ Der heutige Mensch ist vermessen und nutzbar gemacht. Descartes hat die Seele von der Materie getrennt und damit dem Materialismus freie Bahn geschaffen. Seelische Fragestellungen wurden zweitrangig.2 Diese Entwicklungen waren keineswegs im Sinne ihrer Begründer.

Auch das Wirtschaften wurde zum Gegenstand wissenschaftlicher Theorien, wobei der alte Satz „homo homini lupus“, also der Egoismus, zum Axiom erhoben wurde. Die mittelalterliche und antike Versorgungswirtschaft, die nach Befriedigung der Grundbedürfnisse trachtete, ging über in die neuzeitliche Erwerbswirtschaft, die Gewinnmaximierung zum Ziel setzte. Während die bloße Bedarfsbefriedigung sich durch Sättigung auf einem konstanten Niveau halten und damit langfristig bestehen konnte, setzt die Gewinnorientierung nach oben keine Grenze und entwickelte mit einer freigesetzten Gier eine neue ökonomische Dynamik, die das jeweils Erreichte zum Vergangenen und Überholten degradierte. Konsequente ideologische Widerspiegelung war die Einführung des Wachstums als ein wirtschaftliches Dogma. Darwin, von den ökonomischen Theorien seiner Zeit beeinflusst, projizierte damalige gesellschaftliche Verhältnisse in die Natur und erhob Konkurrenz, Anpassung, Erfolg und Untergang zu einem Naturgesetz für die folgenden Generationen.3 Die einst moralisch geächteten Zinsen gaben der Wirtschaft eine zusätzliche Dynamik, indem sie einen Preis mit der Zeit maßen: Zeit wurde zu Geld und der bloße Zeitablauf wurde zu einem Sachzwang. Die Uhr war der erste Automat, der einen objektiven und unausweichlichen Prozess verkörperte, und war damit das ideale Instrument eines nach Exaktheit, Messbarkeit und Objektivität strebenden Denkens.

„Diese Denkweise ist Ursprung und ideale Voraussetzung für den Versuch, alle Probleme als mechanische und technische zu sehen und zu definieren. … Immanenter Bestandteil sind zwei weitere Gedanken: zum einen, dass letztlich jede menschliche Arbeit durch Maschinen zu ersetzen sei, und zum anderen, dass nur das hinreichende Beachtung erfahren soll, was mechanisch machbar und ökonomisch verwertbar erscheint.

Das mechanistische Weltbild und die mechanistische Umgestaltung der Welt verloren die Ehrfurcht vor dem lebendig Gewachsenen und die Achtung vor der natürlichen Umwelt. Sie entzauberten die Natur. Sie entrissen ihr die eigene Seele und Wesenheit als Schöpfung und gaben sie frei zur gewissenlosen Ausbeutung und Ausnutzung. Die Natur war nicht mehr Nährmutter, der man mit Achtung gegenübertrat, sie war nun Objekt der Gier nach immer mehr materiellem Reichtum. Selbst Lebensprozesse im engsten Sinn und die dazugehörenden Kenntnisse, wie das Gebären, Wachsen, Altern, Sterben, gerieten in den Sog der Industrialisierung. Natur und Mensch waren ent-zweit und damit der Mensch auch von sich selbst.“4

Während früher der Mensch das Maß aller Dinge war, wurde mit dem Vormarsch der Industrie die Warenproduktion zum Maß des Menschen. Es war nicht einfach, ihn in dieses System einzuzwängen. Der mittelalterliche Handwerker und Bauer, der gewohnt war, nach eigenen oder naturgegebenen Rhythmen zu arbeiten, hatte sich einem Zeitplan zu fügen, den der Einsatz von Maschinen erforderlich machte. Man hatte gleichzeitig und zu einer vorgegebenen Zeit zu arbeiten. Pünktlichkeit wurde zu einem neuen Wert.
„Den Arbeitern war die neue Zeitorientierung so zuwider, dass viele Fabrikbesitzer schlicht ausserstande waren, Personal zu bekommen. Wenn sie Leute bekamen, waren die Abwesenheitsquoten hoch, und oft kündigten die Arbeiter nach nur einigen kurzen Wochen. In vielen Firmen war eine hundertprozentige Fluktuation bei den Arbeitskräften in einem Jahr nichts Ungewöhnliches.“5

Die meisten Arbeiter fügten sich dem Zeitdiktat erst, wenn sie mittellos und verzweifelt waren. Angesichts dieses ersten Widerstands und der heutigen Situation, wo sich die Menschen mit ihrer Arbeit und deren Zeitstruktur so weit identifizieren, dass sie auf abweichende Kollegen mit Aggression reagieren, ist in den letzten zwei Jahrhunderten eine erstaunliche Umerziehungsleistung vollbracht worden.

Neben der Pünktlichkeit kam Effizienz als neuer Wert hinzu: das Streben, bei vorgegebener Aufgabe die Zeit zu minimieren, oder bei vorgegebenen Ressourcen den Ertrag zu maximieren.

„In weniger als zweihundert Jahren ist die Effizienz aus der Unbekanntheit aufgestiegen und der vorrangige Wert der Gesellschaft, die wichtigste Methode zur Organisation der Aktivitäten der menschlichen Familie geworden. Effizienz ist das Güte- und Firmensiegel der zeitgenössischen Kultur.“6

In ihrer reinsten Form wurde die Effizienz am Ende des 19.Jahrhunderts von F.W.Taylor unter dem Namen „wissenschaftliches Management“ eingeführt. Er zergliederte den Arbeitsprozess in kleinste Elemente und maß für jedes sekundengenau die durchschnittliche und die beste erreichbare Zeit. „Die Leistung der Arbeiter konnte nun auf Ziffern und statistische Mittelwerte reduziert werden, die berechnet und analysiert werden konnten, um die künftige Leistung besser vorauszusagen und größere Kontrolle über den Arbeitsprozess selbst zu erlangen.“7 Die Methode galt als wissenschaftlich, weil sie alle nicht-quantifizierbaren Anteile aus dem Verhalten des Arbeiters ausmerzte. Dazu gehörte neben seinen Emotionen, persönlichen Erwägungen auch sein Know-how, das nunmehr einem Manager übertragen wurde. Der Arbeiter sollte ein bloß ausführendes Organ sein, denn
„wenn die Tätigkeit der Arbeiter von ihren eigenen Vorstellungen geleitet wird, ist es nicht möglich, ihnen die methodologische Effizienz oder das Arbeitstempo aufzuzwingen, die das Kapital wünscht.(Taylor) … Der Arbeiter wurde ein Automat, nicht anders als die Maschinen, an denen er arbeitete, und sein Menschsein blieb draußen vor dem Fabriktor. … Seine Leistung konnte mit der gleichen kühlen Distanz und wissenschaftlichen Strenge zeitlich bestimmt und verbessert werden wie die der Maschinen selbst.“8

Taylor verwirklichte am Menschen den Geist seiner Zeit: die Vermessung.
„Seine Arbeitsprinzipien sind auf jeden Bereich der Erde übertragen worden und sind dafür verantwortlich, dass ein Großteil der Weltbevölkerung zum modernen Zeitrahmen bekehrt wurde. Er hat wahrscheinlich eine größere Wirkung auf das private und öffentliche Leben der Männer und Frauen des zwanzigsten Jahrhunderts gehabt als irgendeine andere Einzelperson.“9

Damit sind die Gleise vorgegeben, die zu unserer heutigen Gesellschaft führen. Auf der ideologischen Ebene sind es Materialismus, Egoismus, Gewinnorientierung und Wachstum, auf der strukturell-operativen Ebene Privateigentum, Zinswirtschaft, Arbeitsteilung, Massenproduktion und Effizienz.
So erfolgreich dieses System anfänglich erschien, es trägt dennoch seinen Untergang in sich. Der 1.Weltkrieg offenbarte die Endlichkeit der globalen Märkte, und spätestens seit der Ölkrise ist auch die Endlichkeit der natürlichen, bisher verwendeten Ressourcen im allgemeinen Bewusstsein. Ob auch die Grenze der inneren menschlichen Ressourcen erreicht ist, wird sich vielleicht in unserer Zeit zeigen, deren Merkmal es ist, nach der physischen Seite verstärkt die psychische Seite des Menschen zu instrumentalisieren. Vielleicht ist nun die Grenze der menschlichen Nutzbarkeit erreicht, aber möglicherweise tun sich damit gerade neue Räume auf, die in virtuelle Welten übergehen, wo sich neue, unbekannte Güter finden und zu einer neuen Dimension der Bereicherung und Ausbeutung einladen.
Der Verschleiß durch übermäßigen Leistungsdruck, die allgemeine Unsicherheit und die innere Unordnung geben jedoch unserer Zeit ein Klima des Untergangs. Das ägyptische System hielt sich 3000 Jahre, mittelalterliche Strukturen konnten sich 300 Jahre halten, wenn heute etwas 30 Jahre besteht, gilt es schon als sehr dauerhaft, und wenn etwas Geplantes 3 Jahre Gültigkeit hat, ist es ein voller Erfolg. Die Entwicklung und das Zeitgefühl haben sich beschleunigt, es zählt nur noch das Jetzt – die Gegenwart umfasst etwa 3 Jahre oder eine Wahlperiode, an 30 künftige Jahre denken nur Utopisten, 300 Jahre nimmt niemand ernst und 3000 weitere Jahre kann sich niemand vorstellen.

3. Gegenwärtige Situation

Auf der Erde zu leben bedeutet, mit Sachzwängen fertig zu werden. Bei Tieren und Pflanzen sind es die natürlichen Lebensbedingungen, beim Menschen, sofern er eine Kultur aufgebaut hat, sind Sachzwänge meist ideologisch verhüllt. Lange Zeit diente Mythologie zu diesem Zweck, heute tut es die Ökonomie. Wirtschaftliches Denken ist zum Maß des Lebens geworden, wirtschaftliche Argumente sind die Ultima ratio einer jeden öffentlichen Entscheidung. Wenn Ausdrücke fallen wie „Arbeitsplatzsicherung“, „Standortsicherung“, „Konkurrenzfähigkeit“, „Globalisierung“ etc., dann kann man sicher sein, dass die Macht der öffentlichen Meinung die Argumentation sanktionieren wird. Die Priorität ökonomischer Werte ist allgemein anerkannt.
Bisher „… war keine Zeit wie die heutige von einem einzigen Ziel, von einer einzigen Wertvorstellung so tief geprägt, die für die ganze Welt einheitlich Gültigkeit hat: der Glaube an das Heil, das in den Wachstumsraten des Sozialprodukts liegt! Wer diesem „Monotheismus“ nicht huldigt, wird zum Außenseiter gestempelt, zur Randschicht degradiert.“10

Diese Ausrichtung kann man als „ökonomisches Paradigma“ bezeichnen. Eine Fixierung darauf kann zu solch merkwürdigen Blüten führen wie der wissenschaftlichen (!) Behauptung, dass fortgesetztes Wachstum notwendig sei, um durch die neuen Erträge Mittel zu bekommen, mit denen die schädlichen Auswirkungen des Wachstum zu beheben seien (die sogenannte „Durchbrecher-These“).
So wie sich die Menschen einst gegen das Zeitdiktat gewehrt haben, könnten sie sich heute gegen das Denkdiktat wehren, aber das Gegenteil ist der Fall: das Paradigma wird immer mehr verinnerlicht. Nachrichten bringen täglich Berichte über Börsendaten, als sei das Volk eine Versammlung von Aktionären. Vor 30 Jahren hätte man das als befremdlich empfunden. Junge Menschen streben heute nach Karrieren, als befände man sich in den Gründerjahren. Dabei herrscht gleichzeitig eine tiefe Skepsis bezüglich der gesellschaftlichen Zukunft. Dies weist bereits auf die psychische Spaltung hin, die unsere Zeit kennzeichnet: man identifiziert sich mit dem, was man gleichzeitig unbewusst fürchtet und ablehnt.

Die Orientierung an Markt und Waren durchdringt das ganze Leben. Nicht nur, dass so ungreifbare und ausgefallene „Dinge“ wie Information und Organe zu Waren werden, auch der ganze Mensch ist Ware: er muss zusehen, wie er sich am besten am Markt verkauft. „Marketing“ ist allgemeines Lebensprinzip geworden. Der Mensch als Ware ist nicht neu; neu ist das Ausmaß seiner inneren Vereinnahmung, die mit allen Mitteln der Psychologie und der Medien betrieben wird. Wer sich einmal dieser Strömung entzieht, wird sofort ihren Druck spüren. Die psychische Ausbeutung erreicht eine neue Qualität und zeitigt neue Symptome. Die physische Ausbeutung ist bereits ausführlich analysiert und kritisiert worden, die vorliegende Arbeit zielt mehr nach innen: ihre These ist, dass parallel zu den äußeren, materiellen Faktoren auch die inneren, psychischen zu einem Ende der heutigen gesellschaftliche Strukturen führen. Sie zielt nach innen auch in dem Sinn, dass nicht nur der Verstand angesprochen werden soll, sondern auch etwas jenseits davon im Inneren.

Das „wissenschaftliche Management“, das Zerlegen von Prozessen in deren Bestandteile und deren möglichst genaue Planung – eine Entsprechung zum wissenschaftlichen „Reduktionismus“ – hat neben dem Allmachtsgefühl der Machbarkeit und Berechenbarkeit einen neuen Menschen hervorgebracht. Von seinen natürlichen Funktionen werden nur die als wertvoll selektiert, die erfassbar, planbar und dem Produktionsprozess nützlich sind. Das bloße Funktionieren ist zur vorherrschenden Daseinsweise geworden: das Abschalten von inneren Regungen, die zu einer Vielzahl von Verhaltensmöglichkeiten führen würden und die Beibehaltung nur des notwendigsten Verhaltens, das die momentane Situation verlangt; ein reduzierter Zustand. Das kann jeder Teilnehmer des Systems an sich selbst beobachten – leider wird dies in den meisten Fällen nicht gelingen, weil das bloße Funktionieren auch eine Einschränkung der Selbstwahrnehmung beinhaltet.
Was aus einem Menschen wird, nachdem er lange genug funktioniert hat, ist kein gesellschaftlicher Wert; er wird zum alten Eisen geworfen: das Sediment der Reduktion. Die vegetierenden Menschen in Altenheimen – deren ausgelaugten Gesichter sind ein drastisches Spiegelbild der heutigen Zeit. Wenn dieser Bereich nicht aus dem allgemeinen Bewusstsein ausgegrenzt würde, wie es heute üblich ist, dann würden sich viel mehr Menschen gegen die Ursachen wehren.Den reduzierten Menschen in seiner heutigen Form zu analysieren wäre eine wichtige Aufgabe. Hier sollen nur wenige Stichpunkte gegeben werden; es bleibt jedem überlassen, wie ernst sie zu nehmen sind.

3.1. Anpassung und Sinnverlust

Anpassung findet in jeder Gesellschaft statt, um ein Zusammenleben zu ermöglichen, ist also nicht grundsätzlich negativ. Wenn Anpassung den Erwerb von überlieferten Fähigkeiten, etwa wie mit den Bedingungen der Natur und der eigenen Psyche umzugehen ist, bedeutet, dann ist sie ein lebensnotwendiges Instrument. Die entscheidende Frage ist also, woran angepasst wird. Schaut man sich bei uns größere Kinder und Jugendliche an, so fällt auf, mit welcher Intensität sie Uniformität pflegen. Sie stürzen sich auf jede neue Mode, sei es Kleidung, Spiele oder Essgewohnheiten, als hinge ihr Leben davon ab. Die übernommenen Formen werden bereits für den Ausdruck der eigenen Persönlichkeit gehalten. Dabei sind die Inhalte keineswegs lebensförderlich: ungesunde Kleidung, fast-food, gewaltsame Videospiele, endloses Internetsurfen bis zur Sucht, chemische Drogen etc. Diese Uniformität geht mit dem Erwachsenwerden fast unmerklich in die Eingliederung in den Produktionsprozess über. Die psychische Struktur – das Übernehmen des Vorgegebenen – bleibt erhalten, nur die Inhalte werden ausgetauscht: das ökonomische Paradigma wird „installiert“.

Das vorrangige Instrument dieser „Erziehung“ sind die Medien. So wie sie durch technische Entwicklung immer neue Bereiche erobern, so erlangt auch die Beeinflussung eine neue Dimension: während früher die Menschen durch äußere Gewalt zu bestimmten Lebensformen gezwungen wurden, wird heute auf immer raffiniertere Weise das Innenleben eingenommen. Der Werbung gelingt es, mit einem Bild unzählige, unterschwellige Informationen zu vermitteln, wie ein wünschenswertes Leben auszusehen habe. Man „stylt“ sich selbst zu einer marktgerecht verpackten Ware des modernen Geschmacks. Der Mensch ist nichts Gewordenes mehr, sondern etwas Gemachtes. Die Medien sind die eigentlichen Erben des 3.Reichs, welches die Massenmanipulation perfektionierte und eine entsprechende Mentalität in den folgenden Generationen verankerte.
Nachdem auf diese Weise sein Inneres gewonnen ist, ist der Mensch bereit, auch sein Äußeres, die Arbeitskraft, preiszugeben. Dies erscheint ihm nicht als eine Kapitulation vor einer fremden Macht, sondern als Erfüllung der eigenen Wünsche. Das ist natürlich eine viel effektivere Methode als offene Gewalt und hat entsprechend tiefergreifende Folgen.

Der normale heutige Mensch ist fast völlig nach außen gekehrt und von seinem Inneren abgewandt. Er verlangt nach Zufuhr von Stoffen und Eindrücken aus der Außenwelt, die über das Maß des natürlichen Stoffwechsels hinausgehen. Der überwiegende Konsum bestimmt die innere Organisation seiner Energien; das permanente Konsumieren hilft ihm, „über die Runden zu kommen“ und Krisen zu überdecken. Der verselbständigte Konsum wird zur Sucht, die Dosis muss meist gesteigert werden, ganz im Sinne der gesteigerten ökonomischen Produktion. Neue Wünsche zu wecken ist kein Problem. Die Sucht gilt heute auch besonders der Information: wer täglich fernsieht, Nachrichten verfolgt, Zeitungen liest etc., wird bei einer Unterbrechung an Entziehungserscheinungen leiden.

Bei aller Fixierung nach außen bleiben die inneren Anlagen des Menschen dennoch bestehen und können zum Konflikt führen.
„Für jene, die in das Erscheinungsbild „normalen“ Verhaltens hineinschlüpfen, weil sie die Spannung der Widersprüche zwischen der uns auferlegten Realität und ihrer inneren Welt nicht ertragen, für solche Menschen gibt es bald keine wirklichen Gefühle mehr. Statt dessen gehen sie mit Ideen von Gefühlen um, haben keine Erfahrung mehr mit ihnen. Sie präsentieren aufgesetzte Gefühle als ihre eigenen und sagen sich von ihren wahren Gefühlen los. Je ‚gesünder‘ das Image ihrer Identität, das sie angenommen haben, desto erfolgreicher werden sie diese Manipulation vollziehen können. Und es ist Manipulation, da ihr Ziel nicht der Ausdruck ihrer selbst ist, sondern sie den anderen davon überzeugen wollen, dass sie angemessen handeln, denken und fühlen. … Die Abspaltung vom eigenen Innenleben kennzeichnet jene Menschen, von denen angenommen wird, sie stünden voll in der Realität. Diese Einschätzung gründet darauf, dass unsere Vorstellung von ‚Realität‘ ganz auf diesen Typus zugeschnitten ist, und wird dadurch immer wieder scheinbar bestätigt. Darum wird gerade solchen Menschen die Macht anvertraut, über unser Schicksal zu bestimmen, obwohl sie der Verantwortung gar nicht gewachsen sind.“11

Innere Spaltung kennzeichnet den modernen Menschen. Nirgends ist dies so verbreitet wie bei seiner Arbeit. Einerseits identifiziert er sich mit ihr, zieht seine Berechtigung und sein Selbstwert aus ihr, zweifelt an sich selbst, wenn er die Arbeit verliert, andererseits lehnt er sie unterschwellig oder offen ab, möchte sie hinter sich bringen, erwartet ungeduldig den Feierabend, das nächste Wochenende, den nächsten Urlaub. Arbeit und Freizeit sind meistens deutlich getrennt und schizophrenerweise gleichzeitig jede höher als die andere bewertet. Wenn zwei Menschen einander kennenlernen, gilt die erste Frage der beruflichen Tätigkeit. Sofern sie sich privat begegnen, ist wiederum die Kritik der Arbeit ebenso selbstverständlich. Den meisten ist gar nicht bewusst, welch ein Widerspruch darin liegt – es ist einfach „normal“. Dieser Widerspruch zwischen dem spontanen Gefühl und dem offiziellen Ausdruck blockiert eine freie Entfaltung und Beziehung zu sich selbst. Er muss ins Unbewusste verdrängt werden, damit die anscheinend unumgänglichen Arbeitsbedingungen weiter ertragen werden.

Das bloße Funktionieren hat verschiedene Grade und geschieht auch in der Freizeit oft unbemerkt. In der Arbeitsituation zeigt es sich deutlicher: „Überall ist Druck. Druck von oben und Druck von unten, Druck, der ein reibungsloses Funktionieren will……Das beste, man macht die Arbeit zur Routine. Funktionieren, ohne beteiligt zu sein, sich nicht mehr ärgern und nicht mehr freuen……“12

Die eigenen Gefühle und Wahrnehmungen werden abgeschaltet, nur die zur Arbeit notwendigen Funktionen laufen automatisch weiter wie eine aufgezogene Uhr. Wie lange kann das gehen? Taylor hätte sich gefreut über den Erfolg seiner Neuerungen, oder vielleicht wäre er entsetzt, denn während er noch einen Manager brauchte, um den Menschen bei seiner Arbeit auszuschalten, macht es der Betreffende heute aus Not selbst.
Das Funktionieren hat sich bei dem Menschen schon so tief eingeprägt, dass er das Gefühl hat, immer etwas tun zu müssen. Wenn er einmal nichts tun kann, wird er unruhig. Er kennt kein wirkliches Nichtstun; zumindest muss er etwas tun, um die Zeit totzuschlagen. Dahinter verbirgt sich natürlich auch die Angst vor inneren Konflikten, die beim Nichtstun spürbar würden und von denen das permanente Tun ablenkt. Das der Wirtschaft so nützliche Tun erhält damit sich selbst und spaltet innere Prozesse vom Bewusstsein ab.

Für das Individuum ist das Funktionieren unter den jetzigen Bedingungen ein notwendiger Überlebensmechanismus, für das Wirtschaftssystem ist es ebenso notwendig, weil es die Effizienz steigert; für die gesamte Menschheit jedoch ist es hinderlich und verhängnisvoll, weil es eine Inflexibilität des Verhaltens und Denkens bewirkt und somit adäquate Reaktionen auf immer komplexere Anforderungen unserer Umwelt verstellt. Probleme werden gar nicht oder zu spät erkannt, und Lösungen können nicht gefunden werden, weil sie außerhalb der Grenzen des bloß funktionierenden Denkens liegen.

Die äußeren und inneren Konflikte – im globalen und persönlichen Maßstab – werden nur aufgeschoben; weder die Abspaltung, noch der Konsum, noch die Erfüllung der Wünsche können deren Ausbruch verhindern. Irgendwann meldet sich das ungelebte Leben mit aller Macht zurück und führt in die Verzweiflung, wenn es für eine Kurskorrektur bereits zu spät ist. Je früher, desto besser ist es daher, sich die Sinnfrage zu stellen und sein Leben in die Waagschale zu legen. Die Natur scheint dem nachzuhelfen, indem sie oft in der Mitte des Lebens eine Krise provoziert, die zu einer Neuorientierung führt. Dies ist ein Phänomen unserer Kultur: von Indianern oder Aborigines hört man nichts von einer midlife-crisis – ihre Anpassung hat dem Leben gedient.

Der Abendländer konnte früher seinen Sinn durch die Theologie finden und war fähig, deren Antworten zu glauben, auch wenn sie ihn manchmal betrogen haben. Die heutige ökonomische Orientierung hilft ihm nicht weiter. Ein Marketing-Berater und PR-Manager überlegt nach 30 Jahren Tätigkeit:
„Es stellt sich die Frage, ob in der Wirtschaftsgesellschaft heutiger Prägung überhaupt eine Identität gefunden werden kann, die sinnerfüllend ist. Kann in einem System, dessen Zwänge Unterwerfungen fordern und dessen Erfolgsdruck jeden einzelnen durch ein ihn erniedrigendes Ausleseverfahren treibt, ein wirklicher Lebenssinn gefunden werden? Oder täuschen wir uns alle nur selbst auf der Suche nach einer sinnvollen Arbeitswelt-Identität? Die Frage nach den Sinn holt uns unerbittlich ein, und spätestens am Ende unseres Berufslebens fordert sie Antwort. Können wir dann mit voller Überzeugung sagen, dass es der Sinn unseres Lebens gewesen sei, den Absatz eines Waschpulvers oder einer Whisky-Marke um ein paar Prozent gesteigert zu haben, die Verbraucher überredet zu haben, das Unkraut ihres Gartens mit giftigen Chemikalien zu bekämpfen, dafür gesorgt zu haben, dass Kapitaleigner von Unternehmen höhere Dividenden erhielten, dass Mit-Arbeiter ihren Familien und Freunden entfremdet worden sind, nur weil wir sie zu mehr Engagement angetrieben haben zugunsten der Firma? Ist es der Sinn unseres Daseins, rosarotes Toilettenpapier angepriesen, uns wie Prostituierte benommen, für Geld und Position jeden Unsinn an unsere Mitbürger verkauft zu haben und alles so ernst genommen zu haben, so wichtig, dass wir sogar unsere Gesundheit dafür aufs Spiel gesetzt haben, dass wir Menschen dazu gebracht haben, unter den unmenschlichsten Bedingungen in der Sahara oder im ewigen Eis nach Öl zu bohren, nur um den Autowahnsinn einer entarteten Gesellschaft weiter betreiben zu können?
Erkennen wir nicht alle ganz unterschwellig, dass in der gesamten Wirtschaft und in der von uns gestalteten Gesellschaft kein Sinn zu finden ist, in dem wir unsere Identität reflektieren könnten? Wenn dem aber so ist und wir nichts unternehmen, der Sinnlosigkeit Einhalt zu gebieten, dann haben wir uns aufgegeben. Aufgegeben, weil wir nicht hartnäckig genug nach dem Sinn fragen, der doch die einzige Möglichkeit ist, Identität zu erlangen.“13

3.2. Unklarheit und Oberflächlichkeit

Der Mensch kann verschiedene Grade von Bewusstsein haben; der bewusstere nimmt den Umfang des weniger bewussten wahr, umgekehrt ist nur eine Ahnung möglich. Ein Wachsen im Bewusstsein kann als ein Lebenssinn angesehen werden.
Ein reduziertes Bewusstsein ist der Angelpunkt des ökonomisch geleiteten Menschen. Seine Wahrnehmung und sein Gewahrsein der äußeren und inneren Situation sind eingeschränkt, er übersieht Signale, die ihn vor Verschlechterung warnen oder auf etwas Erfüllendes aufmerksam machen.

„Der Konformismus des Nicht-Denkens und Nicht-Fühlens hat vielfache Wirkung: vor allem blockiert er Realitätssinn, fördert massive Hinnahmebereitschaft und eliminiert die Einsicht in unsere Lernfähigkeit. Die vom Nicht-Denken erzeugte Nebelwand vor unserem Bewusst-Sein und vor der Bewusstwerdung der Einflüsse unserer Konditionierung müssen wir durchstossen, wenn die Impulse zum Handeln aus uns selbst kommen sollen.“14

Das reduzierte Bewusstsein ist sowohl Produkt als auch notwendige Voraussetzung des Funktionierens. Es macht den Menschen leicht formbar und programmierbar, je nach Bedürfnissen des Marktes. Er glaubt den Erklärungen, die ihm von offizieller Seite gegeben werden und kann Illusionen nicht durchschauen. „Die wohl verbreitetste Lebenslüge in der industriellen Zivilisation formuliert die Identität von gutem Leben und hohem Lebensstandard.“15 Sie hält den Konsum aufrecht und täuscht Zufriedenheit vor. Durch die unkritische Kopplung des inneren Befindens an materielle Güter senkt sie jedoch die Lebensqualität, weil ein wirkliches Wohlergehen gar nicht mehr bekannt ist. Man muss schon in andere Kulturen schauen, um in Armut glückliche Menschen zu entdecken.

Ein Symptom der Reduktion zeigt sich bereits in der Sprache: es ist üblich die eigenen Handlungen mit „ich muss“ anzukündigen, auch da, wo ein „ich will“ angemessener wäre. Beim „Müssen“ wird die Handlung vom anderen sofort akzeptiert, das „Wollen“ dagegen hat ein Stigma von Eigenwillen und Unnötigkeit und verlangt nach weiterer Rechtfertigung. Wer „will“, macht sich verdächtig. Wer „muss“, ist entschuldigt. Der Wollende erweckt den Verdacht, seinen Freiraum irgendwo auf unlautere Weise sich genommen zu haben. Der Müssende dagegen verweist implizit auf eine höhere Autorität, deren Entscheidungen er einfach wie ein Soldat zu befolgen hat, ohne selbst Verantwortung zu tragen. Er appelliert unausgesprochen an eine eingeschworene Solidaritätsgemeinschaft: wir alle müssen, wir sitzen im selben Boot, wir verstehen uns. Im Boot herrscht eine sehr reduzierte Mentalität: bereitwillig flüchtet man sich unter die Obhut einer höheren Autorität, um die Bürde der eigenen Verantwortung los zu werden und in der Masse nicht aufzufallen. Man kennt nichts anderes, alle Menschen sind so und Ausnahmen werden nicht toleriert. Es fehlt sowohl das Verlangen, als auch die Fantasie, das enge Boot zu verlassen.
Das Befolgen eines Sachzwangs hat also eine höhere Akzeptanz und einen höheren Wert, nämlich das Leid des Gehorsams und der Selbstaufopferung, als das Befolgen einer eigenen Entscheidung. Gerade dieses Leiden vergiftet das allgemeine Klima: jeder spürt mehr oder weniger bewusst, dass er sich geopfert hat, und verlangt das Selbe von seinen Mitmenschen, weil ihm ansonsten sein persönliches Schicksal unerträglich wäre.1 So entsteht eine dauernde Stimmung der Intoleranz: wenn sich jemand den Freiraum zu eigenen Entscheidungen bewahrt, erinnert er die anderen zu sehr an deren Opfer und Freiheitsverlust und muss daher aus deren Erfahrungsbereich beseitigt werden.

1 Zu diesem Opfer ist man nur bereit, weil man unwillkürlich eine spätere Belohnung erwartet. Wie viele Menschen mussten jedoch feststellen, dass diese Erwartung eine Illusion war und dass sie mit ihrem Opfer dem eigenem Schicksal überlassen wurden!

Wie könnte es unter solchen Umständen ein Politiker wagen, freie und persönliche Entscheidungen zu treffen? Natürlich muss er Sachzwänge vorschieben, denn nur so kommt er beim Volk als Seinesgleicher an und ist ebenfalls entschuldigt.
So hat das ständige Funktionieren eine eingefleischte und herzensenge Sachzwangmentalität hervorgebracht. Hätte das „Wollen“ mehr Raum in der Sprache, wäre es offensichtlich Ausdruck eines klareren Bewusstseins und würde zur Befreiung anregen.Ein reduziertes Bewusstsein übersieht nicht nur persönliche Signale, sondern auch gesellschaftliche Fakten, durch die es aufgerüttelt werden könnte. Zum Beispiel herrscht die Vorstellung, dass mit Einführung neuer Techniken und Maschinen, die Arbeit ersparen und rationalisieren, auch Arbeitsplätze verloren gehen müssen. Wenn jedoch die technischen Fortschritte tatsächlich zur Arbeitsersparnis dienen würden, wofür sie ausgegeben werden, dann wäre die logische Konsequenz eine andere: bei gleicher Produktion und gleichen Einkünften hätten die Menschen weniger Arbeit und mehr Freizeit. Dass dies nicht der Fall ist, und die Menschen entweder noch mehr arbeiten müssen, weil die neue Technologie ihre Arbeitskraft effizienter verwertet und damit zu noch mehr Leistung auffordert, oder ihre Arbeit ganz verlieren, kann nur daran liegen, dass der technische Neugewinn einseitig verteilt wird und nur den Besitzern der Produktionsmittel zugute kommt. Diese Tatsache ist zu einfach, als dass sie nicht jedem irgendwie bewusst wäre. Und dennoch gelingt es, sie zu verschleiern und so soziale Unruhen zu verhindern. Über Arbeitsplatzabbau wird oft berichtet, vom wirklichen Profit der Unternehmer erfährt man wenig, und alles erscheint wie ein unabänderliches Naturgesetz. Sobald wirtschaftliche Themen berührt werden, wird das Denken eindimensional. Wenn etwa ein Unternehmen, ob privat oder staatlich, in Schwierigkeiten gerät und neu organisiert werden muss, kommt niemand auf die Idee, es „menschlicher“ zu gestalten, damit die Arbeit mehr Freude macht und die persönliche Entwicklung nicht behindert, sondern es gilt als selbstverständlich und unausweichlich, zu harten, rigiden Maßnahmen zu greifen, die allein der Wirtschaftlichkeit dienen und bei den Betroffenen immer Leid nach sich ziehen. Dagegen gibt es in der Bevölkerung keinen ernsthaften Widerstand, die Selbstverständlichkeit wird nichteinmal in Frage gestellt. Die Menschen sind durch ihre Sucht nach Konsum schon so eingebunden und lenkbar, dass sie bis an den Rand ihrer Existenz geführt werden können, ohne sich zu wehren. Die systematisch geschaffene Suchtstruktur ist das mächtigste Lenkinstrument der modernen Konsum- und Informationsgesellschaft.

Die gleiche Vordergründigkeit findet sich auch beim Thema Arbeit. So viel Gewicht man ihr gibt, so wenig schaut man auf ihre Beschaffenheit. Wenn Menschen beurteilt werden, ist es wichtig, dass sie eine „ordentliche“, anerkannte Arbeit haben, also in einem Arbeitsvertrag oder in anderen offiziellen Geschäftsverhältnissen stehen, aber welche Arbeit sie dabei verrichten und welche Folgen diese hat, wird nicht gefragt. Einer mag Waffen, Gifte, Zigaretten oder Banalitäten produzieren, Urwälder abholzen oder durch legale Tricks sich Geld beschaffen – zu Hause, am Stammtisch oder in der Statistik ist er der anständige Arbeitnehmer, der einfach seinen Dienst getan hat. Das geschickte zu Geld kommen ist allein schon ein Wert. Die in der Öffentlichkeit übliche und selbstverständliche Ausklammerung des Inhalts der Arbeit ist mitverantwortlich für die Zerstörung der Umwelt und des gesamten Lebensklimas. Sie geht nicht nur mit einer Trübung des Bewusstseins einher, sondern auch mit der bereits genannten Spaltung der Lebenswelt, die nicht ohne psychische Folgen bleibt:
„Mit der Aufteilung des Lebens in Privatsphäre und Arbeit spaltet sich das Individuum selbst auf. Schwindel, Heuchelei und Lüge als Basis für Verhaltensweisen machen auf die Dauer krank. Der ‚zweigeteilte‘ Mensch, der einerseits sehr wohl weiß, dass er eigentlich Verantwortung gegenüber sich und der Umwelt hat, andererseits aber der Verantwortungslosigkeit das Wort redet und das Übergehen des Geschehens in der Welt zur Grundlage seiner Karriere, seines beruflichen Egoismus gemacht hat, muss sich eine Neurose zuziehen, die Wirklichkeit und Schein nicht mehr voneinander trennen kann.“16

Eine weitere Illusion ist die Meinung, dass Demokratie herrscht. Das Vorhandensein demokratischer Strukturen und der Umstand, dass regelmäßig gewählt wird, genügen als Beweis. Der Anschein wird für Tatsache genommen. Aber wer wählt? Sind es bewusste Individuen, die eine freie Meinung kundtun? Alle 4 Jahre ist viel vom Wählerwillen und Wählerauftrag die Rede, das Volk erscheint mächtig und die Mächtigen geben sich bescheiden; dabei ist es kein Geheimnis, dass der Wählerwille fast beliebig und auf fast lächerliche Weise beeinflusst werden kann. Aus der Propagandaforschung ist bekannt, dass auch Absurdestes, wenn nur oft genug wiederholt, seine Wirkung hat. Ist es eine Demokratie, wenn das Subjekt der Demokratie gar nicht vorhanden ist? Der Politikverdruss ist nur ein konkreter Ausdruck davon. Was vor und nach der Wahl gleich bleibt, ist die Verflachung des Denkens und Fühlens. Die Wahlparolen spiegeln sie wider und bestätigen sie.
Immer wieder gibt es Skandale, wo Politiker und andere öffentlich auftretende Personen mit nachdrücklicher Mimik behaupten, die Wahrheit zu sagen, und später doch als Lügner entlarvt werden. Wie können diese sich windenden und verkrampften Gesichter mit ihrem abgeschalteten Blick und verzerrter Machtsprache noch überzeugend sein? Sie werden für normal gehalten! Warum wird nicht eine Diskussion über das Lügen in der Öffentlichkeit geführt? Warum ist so wenig Sensibilität dafür vorhanden? 2Wir leben in einer Kultur der Oberflächlichkeit. Man begnügt sich mit dem Anschein und fragt nicht nach der Substanz dahinter. Alles geschieht flüchtig. Die Leute haben keine Zeit und keinen Sinn, um in die Tiefe zu gehen. Man begnügt sich mit Nichtigkeiten, die massenhaft produziert und konsumiert werden. „More and more information – less and less meaning.“17 Kommunikation wird zunehmend von Technologien geformt und kontrollierbar gemacht.
Zwischenmenschliche Aufmerksamkeit und Anteilnahme nehmen ab, Flüchtigkeit und Vergesslichkeit nehmen zu. Ereignisse werden in der Öffentlichkeit aufgeblasen und schwinden dahin wie Eintagsfliegen. Informationen werden verkürzt und verzerrt, wahre Gründe für wichtige Entscheidungen werden nicht ausgesprochen. Die Informationsgesellschaft zeichnet sich nicht durch Klarheit und Verfügbarkeit der Information aus, sondern durch deren Verschleierung und Missbrauch als Machtinstrument.

Medien zeigen täglich serienweise Menschen mit charakterlicher Armut eines Strichmännchens. Unterhaltungssendungen werden immer anspruchsloser, die unechten Gesichter blicken aus allen Kanälen: eine permanente Programmierung der Konsumenten.
„Der wirtschaftliche Wachstumsdruck auf die Medien, die Buch- und Zeitungsverlage sowie die Massenkommunikationsmittel öffnet der nächsten „Umweltverschmutzung“ Tür und Tor – der Verschmutzung, Gefährdung und Zerstörung des menschlichen Aufnahmevermögens überhaupt. Individuelles Erleben und Denken wird vorgerastert und vorfabriziert, als handle es sich um Bauelemente für ein Mietshaus. Gefühls- und Bewusstseinsinhalte werden zur Manipuliermasse anonymer öffentlicher und privater Kommunikationskonzentrate, die dem Gesetz der quantitativen Expansion ausgeliefert sind. Vergröbernde Schlagzeilenmentalität, der Appell an Ressentiments und die Projektion von realitätsfernen Scheinwelten erweisen sich dabei als geeignete Mittel, ein Massenpublikum durch ein modernes „panem et circenses“ kurzfristig zu unterhalten und immer von neuem an der Stange zu halten.“18

Die alldurchdringende Digitalisierung (ein elementares Messbarmachen) fasziniert, schafft aber keine Tiefe. Alles erscheint machbar, lösbar und löschbar. Dahinter steht die verführerische Illusion, dass die Grenzen der programmierten Welt mit den Grenzen der realen Welt identisch sind. Kriege werden zu bloßen Videospielen. Umgekehrt werden für Kinder Videospiele zur Realität. Selbst Sinnlichkeit wird virtuell. Auch Arbeit wird virtuell: mit bloßem Tastendruck werden in der Finanzwelt Millionengewinne gemacht, ohne Schaffung eines realen Gegenwerts.
Computersimulation umgibt unser Bewusstsein, die Maschine soll das lästige Denken abnehmen, ein Knopfdruck soll Arbeiten erledigen und Wünsche erfüllen – gepriesen als Höhepunkt des Lebensstandards – mehr gedankliche Leistung wird nicht verlangt: Reduktion umgibt den Menschen von allen Seiten.
Der Computer mag einige Alltagsroutinen übernehmen, aber ist es wirklich ein Gewinn, wenn die Heizung Flugtermine berücksichtigt, wenn der Kühlschrank von selbst Einkaufszettel erstellt und wenn auch die Mikrowelle ans Internet angeschlossen ist? Durch Gewöhnung an solche Vereinfachungen wird der Mensch immer mehr in ein subtiles Netz eingebunden und verliert zunehmend seine einzigartige Persönlichkeit. Ein neues Magazin, dessen Thema „der Mensch in der digitalen Welt“ ist, fasst in seiner Werbeschlagzeile alles wunderbar zusammen: „Computer. Lifestyle. Zukunft.“
Ein alter Satz hat ein neues Gewand bekommen: Trachtet als erstes nach der Oberflächlichkeit des Geistes; alle anderen Qualitäten des Lebens werden entsprechend dazugeliefert. Die Rechnung allerdings muss jeder selbst zahlen.

2 Wenn Gewalttaten geschehen, die offensichtlich aus einer sehr beschränkten geistigen Verfassung stammen, zeigen sich die Politiker moralisch entrüstet und fragen nach Ursachen; dabei haben sie selbst den Nährboden dazu geliefert.

3.3. Überforderung und Angst

Es heißt, jeder bräuchte heutzutage einen Therapeuten. Die Liste der psychosomatischen Beschwerden unserer Gesellschaft ist lang. Hauptursache ist eine Überforderung des Menschen. Sowohl in seiner Tätigkeit – durch permanenten Leistungsdruck – als auch in seiner Wahrnehmung – durch permanente Reizüberflutung – kommt der Mensch im Übermaß an seine Grenzen; er gerät in Krisen, für die er keine Lösung weiß. Zu widersprüchlich sind die Vorgaben der sozialen Umwelt, zu gering der Vorrat an inneren Werten. Einerseits wird ihm eine heile Welt nahegelegt, die erreichbar scheint, wenn er gewisse Regeln befolgt, andererseits wird diese Welt täglich demontiert. Das ökonomische Paradigma vermag zwar Richtlinien für äußeres Handeln zu geben, vor allem auf unpersönlicher, öffentlicher Ebene, sobald aber der Mensch in seinem Inneren Ordnung schaffen will, lässt es ihn ohne Orientierung. Er ist überladen mit fremden Inhalten und gleichzeitig seiner Kräfte beraubt: „overload“ und „burnt-out“.

Als Grundgefühl bei dieser Grenzwanderung muss sich eine Angst – „die Krankheit unserer Zeit“ – herausbilden. Dabei geht es nicht nur um sichtbare Angst, die in verschiedenen Formen die Therapeuten beschäftigt, oder um die natürliche Furcht in einer konkreten, bedrohlichen Situation, sondern um einen verselbständigten, unterschwelligen Dauerzustand, der das gesamte Leben beeinflusst. Wenn der Mensch sich selbst wie ein Computerprogramm analysieren könnte, in der Hierarchie der Ebenen bis zu den untersten Elementen hinabsteigen könnte und so die konkreten Bestandteile seiner Handlungen vor sich sähe, dann würde er staunen, an wie vielen seiner Entscheidungen Angst beteiligt ist. Möglicherweise ist in unserer Kultur keine Entscheidung völlig frei von Angst. Wenn sie beteiligt ist, dann schwingt sie meistens nur unbewusst mit und wird daher nicht zum Thema gemacht. So bleibt sie stets erhalten und kann aus dem Hintergrund wirken. Um sie dabei zu bemerken, bedarf es einer gewissen Sensibilität. Davon ist der reduzierte Mensch weit entfernt.

Die Angst ist nicht ein bloßes Gefühl, sondern ein elementarer Mechanismus der Energieregulation. Das treffende Wort – Angst=Enge – weist auf eine Verengung der Energiezufuhr sowohl zu organischen Funktionen als auch zu emotionaler Befindlichkeit, dem meist unbewussten Grundgefühl, auf dem sich alle anderen, bewussten Emotionen, Gedanken und Handlungen des Tages abspielen. Im Extremfall führt die Verengung, die fast immer mit einer unbewussten Muskelspannung einhergeht, zu einer Blockade, dem Schockzustand; ein Grad geringer ist die Erstarrung in Depression. Der Energiefluss ist in diesen Fällen auf ein Existenzminimum reduziert. Am anderen Pol, dem freien Fließen in Offenheit und Weite, wenn die Angst überhaupt nicht wirkt, erlebt der Mensch ein völliges Aufblühen, Aufleben, Glück und Seligkeit.
Der Normalzustand in unserer Gesellschaft ist nicht in der Mitte, sondern eine „ausgewogene“ Dosis der Reduktion; so ausgewogen, dass sie unbemerkt bleibt. Die meisten Menschen fühlen den Mangel nicht, weil sie dessen Gegenteil, den freien Fluss der Lebenskraft gar nicht kennen und daher auch nicht vermissen – oder sie verzichten freiwillig darauf, weil sie meinen, dies dürfe nur in Ausnahmesituationen geschehen, z.B. im Urlaub. Die Angst spielt also die wichtigste Rolle bei der Gestaltung unserer Lebensqualität; sie ist der konkrete Mechanismus, der den reduzierten Menschen hervorbringt. Da dieser wiederum leicht zu Angst neigt, erhält sie sich selbst – eine charakteristische Eigenschaft psychischer Störmuster.

Die Angst ist nicht nur ein energetisches Instrument unserer Gesellschaftsform, sondern auch deren strukturelles Abbild: beide arbeiten mit Täuschung. Der verborgenen Angst gelingt es, dem befallenen Menschen ihre Selbsterhaltung als seine Selbsterhaltung zu „verkaufen“. Der Mensch vermeidet etwas zu tun, wovor er Angst hat, um sich zu schützen, dabei schützt er die Angst, die solange berechtigt erscheinen kann, wie das Bedrohliche nicht getan wird. Dabei könnte das Bedrohliche sich als etwas ganz anderes, etwas Wohltuendes erweisen, wenn der Mensch es wagen würde, sich darauf einzulassen und es so kennenzulernen. Wenn er Angst hat, ins Wasser zu springen, weil er ertrinken könnte, erscheint die Angst solange berechtigt, wie er nicht hineinspringt. Wenn er es tut, könnte sich herausstellen, dass er schwimmen kann und dass die Angst eine Illusion ist. Solange man der unterschwelligen Angst gehorcht, gibt es keinen Grund, an ihr zu zweifeln; erst wenn man ihr zuwiderhandelt, kann sie sich als Täuschung entpuppen. Das mag ein Hinweis für die eigene und gesellschaftliche Befreiung sein.

Bereits das Durchschauen dieses Mechanismus, der Verwechslung und Täuschung, ist eine prinzipielle Widerlegung der Angst. Wenn das geschieht, hat sie nicht mehr die gleiche Macht wie vorher. Die Angst ist zwar immer noch da, aber auf dem Rückzug, denn der Boden, auf dem sie wachsen kann, ist ihr genommen. Das kann jeder erfahren, der zu innerer Arbeit bereit ist. Diese kleine Betrachtung verdeutlicht, wie man sein Bewusstsein nutzen kann, um sich von vorgesetzten Zwängen zu befreien, und zeigt zugleich, auf welcher elementaren Ebene eine Veränderung der Gesellschaft ansetzen kann.

3.4. Weitere kritische Stimmen

Die Notwendigkeit einer grundlegenden Änderung steht außer Frage. Die Kritiker sind sich einig: „Heute wird klar, dass die meisten Gesellschaften der Welt genau vor dieser kritischen Frage stehen: entweder bleiben die Menschen Nummern in der konditionierten Masse, die nach noch mehr Abhängigkeit drängt, oder sie werden den Mut finden, der einzig Rettung aus der Panik verheißt: nämlich stehen zu bleiben und nach einem anderen Ausgang zu suchen, statt sich ins allgemeine Gedränge vor der vorgeschriebenen Tür zu stürzen. …. Eine kopernikanische Wende in unserem Verständnis der Werte “ tut not.19

„Es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese dem Wachstumszwang unterliegenden Systeme zusammenbrechen bzw. in Handlungsunfähigkeit und Kontraproduktivität erstarren.“20

„Eine Lösung ist nur denkbar, wenn wir den Mut haben, die Grundlagen unseres wirtschaftlich-gesellschaftlichen Systems zu überprüfen und zu verändern.“21

Ein ökologisches Denken muss das ökonomische ablösen. „Kraft und Möglichkeit zum ganzheitlichen Denken waren schon immer im Menschen vorhanden. Insofern erfordert das neue Denken keine neuen Menschen, sondern nur Arbeit, um das Verschüttete und vielleicht nie ganz frei Gewesene sichtbar zu machen und wirken zu lassen. ….Das Bemühen um ganzheitliches und vernetztes Denken führt zu einer Stärkung und Revitalisierung unserer Innenwelt.“22

Der einzelne Mensch vermag es, doch auf der institutionellen Ebene herrscht Unfähigkeit und Widerstand. „Genau wie der legendäre Inquisitor, der sich weigerte, durch Galileis Fernrohr zu blicken, weigern sich die modernen Ökonomen, eine Analyse zur Kenntnis zu nehmen, die den konventionellen Mittelpunkt ihres ökonomischen Systems verrücken könnte. Andere analytische Instrumente würden sie zu der Erkenntnis zwingen, dass nicht die marktbaren Gebrauchswerte im Mittelpunkt jeder langfristig lebensfähigen Kultur stehen.“23

Nochmals am Beispiel der Arbeit, deren drohender Verlust eine verbreitete Angstquelle ist:

„Nicht-mehr-arbeiten-können aus Mangel an Arbeitsplätzen wird die Regel werden. Eine Tatsache, die offen vor uns liegt, aber von der Gesellschaft mit Wort-Tiraden ihrer Politiker in Abrede gestellt wird. Niemand beschäftigt sich mit einer Analyse des Problems und sucht nach Konzepten, wie man auf die Dauer mit zigmillionen Menschen umgehen soll, für die es keine Arbeitsmöglichkeiten mehr geben wird. – …. Die Infantilität gesellschaftlicher Organe gegenüber den Aufgaben und Möglichkeiten der Zeit ist schier unglaublich.“24

Die gegenwärtige Strategie der Politik ist, den Menschen einzureden, dass sie bloß „fit“ gemacht werden müssen, um ihre eigene „Chance“ zu ergreifen und „Verantwortung“ zu übernehmen. Das ist nur eine beschönigende Ausdrucksweise dafür, dass Sozialleistungen abgebaut werden sollen und jeder dem Treiben des „freien“ Marktes überlassen wird.
Dabei wird nicht in Betracht gezogen, dass es auch eine „schöpferische Arbeitslosigkeit“ geben kann, eine Gelegenheit, „sich außerhalb von Lohn- und Dienstverhältnissen nützlich für sich selbst und andere zu betätigen“ und neue Lebensformen zu entwickeln, die der Gemeinschaft wertvolle Impulse geben können. „Zukünftig wird die Qualität einer Gesellschaft und ihrer Kultur vom Status ihrer Arbeitslosen abhängig sein: werden sie ganz repräsentative, produktive Staatsbürger sein – oder werden sie Abhängige sein?“25 In anderen Kulturen (Indien, Afrika) war es üblich, Lebensformen zu unterstützen, die nicht in den materiellen Produktionsprozess integriert waren, sondern auf eine andere Weise zum Wohlergehen der Gemeinschaft beigetragen haben. Solche Heiler und Heilige haben es bei uns sehr schwer.

Nicht in erster Linie die Millionen Arbeitslosen, die fast alle unter ihrer Lage leiden, sind für den Staat unerträglich, sondern die wenigen Millionäre, die sich mit allen Mitteln immer weiter bereichern. Der Staat ist in Wirklichkeit nur deren Instrument, der ihr Wirken ordnet und sanktioniert, und die Politiker sind willfährige Mitspieler, die von ihrer Macht profitieren. Dies kann nur durch eine umfassende Verschleierung aufrecht gehalten werden und entwickelt sich zunehmend zu einer Schadensbegrenzung und Verwaltung des Notstands, zu einer postindustriellen „Reparaturgesellschaft“.

Die Reichen werden immer reicher, trotz und wegen Krisen und verordneter Sparpolitik, die Armen werden immer apathischer und die Übrigen immer haltloser. Es scheint, als würden sich immer mehr finstere Kräfte durchsetzen, die alle Konflikte auf der Erde als willkommene Versuchsobjekte nutzen, um ihre Machtinstrumente weiter auszubauen. Kriege als „humanitäre Maßnahme“ sind optimale Manöver und sichern zugleich Rohstoffe. Sie spiegeln das gegenwärtig niedrige geistige Niveau, welches nur in der Selbsttötung der humanen Spezies einen Weg zur Maßhaltung findet. Die planetare Menschheit scheint in zwei Lager zu zerfallen: die einst dritte Welt, die technologisch unterlegen dem Untergang geweiht wird, geopfert durch Kriege, soziale Unruhen, Krankheiten und Naturkatastrophen, und die alte erste Welt, die mit überirdischer Gerechtigkeit ihren Wohlstand halten will und die übrige Welt als militärisches, wirtschaftliches, politisches, biologisches und soziales Experimentierfeld – nebst Rohstofflager – benutzt. Doch auch die erste Welt ist von einer Krankheit, einer noch tieferen, befallen und muss große Anstrengungen unternehmen und neue Wege suchen, um ihre Mitglieder in den vorgegebenen Kurs einzubinden.

Gegenwärtig, wo sehr viele Menschen sehr viel Zeit vor einem Computer verbringen, wäre dieses Gerät vorzüglich geeignet, um die Psyche zu manipulieren und eine Art Massenhypnose zu erzeugen. Nicht wie im Fernsehen durch bloß optische Botschaften, die noch einigermaßen bewusst begriffen und benannt werden können, sondern auf einer viel subtileren und tieferen Ebene durch energetisch-strukturelle Impulse, die den gesamten Organismus in einen bestimmten Energiezustand versetzen und so dem Denken und Fühlen neue Grundmuster vorgeben. Auf dieser Ebene hat der Mensch noch keine Abwehrkräfte, kein Immunsystem: subtile Botschaften können ungehindert wie Viren in sein Inneres eindringen und dort ihr Werk verrichten. Wer diese Technologie beherrschte, hätte fast die ganze Menschheit im Griff – mit unabsehbaren Spätfolgen. Aber auch ohne derart gezielte Eingriffe wird die mit dem Computer aufgewachsene Generation eine Welt prägen, deren Entfremdung wahrscheinlich eine neue Qualität erreicht. Virtualität zersetzt Realität. Möglicherweise ist die Massenhypnose bereits weit fortgeschritten und es ist ein Teil von ihr, sie nicht zu bemerken.

Auf der anderen Seite wird die öffentliche Ablenkung immer heftiger und aufdringlicher. Immer lautere, grellere, groteskere, banalere, absurdere und gewaltsamere Sendungen 3 und Spektakel erfüllen die Medien, sei es als Unterhaltung oder Tagespolitik, fesseln rücksichtslos die Aufmerksamkeit und schaffen so eine zunehmende Verwirrung und Orientierungs-losigkeit. Diese Flutwelle der Eindrücke ist selbst Ausdruck einer Kopf- und Hilflosigkeit, die im öffentlichen Geschehen stehende Menschen befallen hat und immer dringlicher nach einem Ventil verlangt. Das System wird immer mehr aus verborgenen Quellen aufgeheizt, die Übersicht geht verloren und die entfesselten Kräfte brechen sich selbst ihre chaotische Bahn. Ein geköpfter Hahn rennt auch ohne Kopf noch eine Weile weiter, bis er umfällt.

„Institutionen, Kulturen und Gesellschaften sind Systeme, die sich an die Umwelt anpassen. Sie durchlaufen mehrere Entwicklungsphasen und machen bisweilen Anpassungskrisen durch – manchmal funktionieren sie aber auch so schlecht, dass man direkt von einer kranken Gesellschaft sprechen kann. Einige Kulturen und Gesellschaften verschwanden von der Erdoberfläche, da sie nur noch schlecht funktionierten.“26

Es ist sehr fraglich, ob sich unsere Kultur durch Einsicht und Bemühung ändern wird. Wahrscheinlicher ist eine Krise oder Katastrophe, welcher Art auch immer. Die Sachzwangmentalität behauptet sich bis zum bitteren Ende. Solange die Umwelt sich nicht drastisch ändert, hat der Mensch automatisch das Gefühl, es werde alles beim Alten bleiben, es werde schon irgendwie gut gehen. Sobald aber das Gewohnte zusammenbricht, ist er sofort ernüchtert und meint, das hätte er schon früher wissen können, wenn er es nur zugelassen hätte. Warum sich also noch irgendwelchen Illusionen hingeben?
Anderseits muss man nicht in Resignation verfallen, denn es ist niemals möglich, Entfaltungsmöglichkeiten eines Systems im voraus genau zu berechnen: zu komplex sind alle realen Systeme und zu gering ist unser Wissen von Strukturen. Auch eine sehr wahrscheinliche Prognose kann sich als Irrtum erweisen. Außerdem wissen wir nicht, wo die Grenzen unserer Welt liegen, und wohin wir gelangen, wenn wir Grenzen überschreiten. Der einst so hilfreiche Satz: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ muss erweitert und fortgesetzt werden. Das Bewusstsein bestimmt mehr, als wir denken. Wie anders dagegen wirkt der advaitische Satz: „Sowohl Befreiung wie Gebundenheit sind Einbildungen unserer Unwissenheit … “

3 etwa Folter-Shows in den USA

Auch ohne unsere Zukunft zu kennen, kann jeder seinem Leben Ausdruck geben und „ein Apfelbäumchen pflanzen“. Die persönliche Entscheidung, die Augenblicke der inneren Fülle und Stimmigkeit – etwa im gelungenen Urlaub – und nicht die lange Zeit des gewohnten Funktionierens zur Richtschnur des Lebens zu nehmen, bewirkt eine innere Weichenstellung, die zunächst unbemerkt und mit der Zeit immer deutlicher auch das äußere Leben umgestaltet. Verbunden mit einer aufmerksamen Auseinandersetzung mit der eigenen Angst und einer Toleranz gegenüber anderen Denk- und Lebensweisen, eröffnet sie neue Räume und lässt an Möglichkeiten und Sinn des Lebens nicht mehr zweifeln.

3.5. Eine fiktiv-realistische Geschichte

Standort zum Sterben

Eines Morgens brach er unvermittelt zu einem Spaziergang auf. Weite Felder öffneten sich vor ihm, Vögel sangen ihr Morgenlied und die Sonne lichtete den frühen Nebel. Er ging einfach geradeaus, ohne ein bestimmtes Ziel, recht weit auf einsamen Feldwegen bis zu einem Hügel, der Aussicht bot auf die gesamte Landschaft. Am Abhang zog der Weg eine Kurve, eine Abzweigung verlor sich im Gras. Da blieb er stehen und schaute sich um. Am Horizont war im Dunst ein Gebirge zu sehen. Die hohen Spitzen verschwanden in Wolken. Etwas näher zog sich ein Fluss im tiefen Graben. Stellenweise sah er die ruhige Bewegung des Wassers. Kleine Boote glitten dahin, sogar Schwäne konnte er erkennen. Der Vogelsang erklang nur noch schwach aus der Ferne, ein leichter Wind rauschte in vereinzelten Obstbäumen. Erste braune Blätter fielen zu Boden.

Das Land gefiel ihm, er sah dessen Schönheit. Doch als wäre ein Filter zwischen ihm und der Welt, konnte die Wahrnehmung in ihrer Fülle sein Inneres nicht erreichen. Alle Farbe war ihr abgezogen, alles Lebendige genommen, selbst ihr Sinn schien verloren, nur unwirkliche Schemen blieben übrig. Früher hatte er die Schönheit der Welt oft gefühlt, auch dafür versuchte er einst zu leben, aber seit geraumer Zeit schlich sich ein Mangel ein, das Gefühl der Wirklichkeit wurde immer geringer, zunächst fast unmerklich und nun schmerzlich klar. Der Mangel verfolgte ihn wie ein Schatten, er ließ sich nicht abschütteln, nicht ergründen, nicht widerlegen, wie ein Netz hielt er den zappelnden Fisch gefangen. Diesem Schatten wollte er entkommen, endlich seine Grenze erreichen, endlich wieder Licht und Farben erblicken … Was gäbe er für ein wirkliches Gefühl! Diese Sehnsucht war es wohl, was ihn zum Hügel trieb.

Lange schaute er sich um, als wollte er in der Ferne sein vergangenes Leben erspähen. Irgendwo musste es existieren, vielleicht in den Dörfern am Fuße der Berge, wo bestimmt Kinder noch fröhlich spielten. Schön war die Zeit, als er kindlich über Wiesen lief, nun aber nahm er Abschied von der Welt, er glaubte zu sterben, diese Grenze des Lebens schien ihn zu erlösen, sie war seine einzige Freiheit, schon lange stand er in ihrem Bann, denn all die Zeit des Erwachsenseins hatte ihn zutiefst enttäuscht; er fand nicht das Leben, dessen er sich als Kind so sicher war.
„Hier sterben, das ist ein guter Ort“, dachte er und sah zum Boden, als sei da etwas vorzubereiten. Ameisen und ein Käfer liefen umher, sie und das Gras und der Wind bestimmten das Leben hier. Menschen kamen selten her; man würde ihn erst nach Tagen finden. Das gab ihm eine gewisse Beruhigung. Die Erde war erfüllt mit Leben, er spürte es fast und musste ein wenig lächeln. Natürlich, hier war die Sorglosigkeit der freien Kreatur, die er schon immer gesucht hatte. Sie war ihm ein Vorbild, ein Heim für seine wunde Seele, während die Vorgaben und Triebe der geschäftigen Welt ihm als Illusionen erschienen. Das waren Schall und Rauch, die die Menschen umgaben und sie süchtig machten. Die Menschen schienen glücklich darin, mit lachenden Gesichtern tanzten sie besinnungslos zu den vorgespielten Rhythmen und wurden ihm immer fremder. In seiner Wahrnehmung verloren die blassen Gestalten ihre Gesichter, Fleisch löste sich von den Knochen, nur noch Skelette sprangen wirr umher, bis sie sich schließlich vergiftet und verkrampft auf dem Boden wälzten.Wahn oder Wirklichkeit ? Wer hält jetzt inne und fragt ? Wer ist es, der hier fragt ?

Er war überzeugt, dass es andere Wege geben muss, solche, die uns die Natur tagtäglich vor Augen führt. Aber waren sie für Menschen begehbar? Wie sollten die Menschen einen Ausweg erkennen, wenn sie, in ihrer Sucht berauscht, nur das sehen, was sie gerade tun oder sich wünschen? Was vermag sie noch zu ändern? War er doch selbst, trotz seines Zweifels und Widerstands, im allgemeinen Netz gefangen. So war er hin und her gerissen zwischen seiner Einsicht und Hoffnung und der Resignation, die ihn verzweifeln ließ. Wie ein Fluch oder eine Strafe für seinen Widerstand ist ihm jener Schatten nachgeschickt worden, der der Welt ihre Wirklichkeit raubte und der nunmehr sein Gemüt zu verdunkeln begann. Auch sein Leben schon erschien ihm wie Illusion, als hätte er fortwährend eine Maschine bedient und sich dabei selbst vergessen. Er kam sich vor wie ein Heizer, der immer eine Dampflokomotive gefahren hatte und nun über und über mit Staub und Ruß bedeckt war: er hatte sein Inneres verheizt. Eine grenzenlose Übelkeit überkam ihn, ein unerträglicher Zustand. „Muss ich euch noch sterben dafür, dass ich euch diente?“ dachte er, innerlich den Kopf schüttelnd über diese unbegreifliche Verstrickung.
Er sah zum Himmel. Blau und klar, das hätte ihn früher gefreut, aber jetzt ergoss sich weiter seine Vergangenheit wie ein Hohn über ihn und steigerte noch die Übelkeit. Hinzu kamen Erinnerungen an die Welt, nirgends darin war wirkliches Leben, nur in der Natur, überall sonst nur Schranken, versteckt hinter sachlichen Gesichtern, die ganze Welt eine Lüge, ein Plastikgetriebe, das sich mit Gewalt in Bewegung hält, eine endlose Sammlung von lebensraubenden Belanglosigkeiten, ein Kadaver, blutrot übermalt – und überhaupt alle Dinge, das ganze Sein verdichtet zu einer drückenden, bedrohlichen und ausweglosen Masse, in der sein Kopf steckte, während sein Inneres lautlos zum Himmel schrie.

Aufatmen, aufatmen, wann ist endlich Aufatmen?

Der Schatten hatte sein Höchstmaß erreicht, die Dunkelheit erfasste alles.
Er ließ es geschehen. Wie ein Baum stand er still – irgendwelche Zweige des Lebens waren entsetzlich fern.
Ein polarer Winter, eine immerwährende Nacht, das Leben vom Frost zersprengt.
Wie ein abgerissener Leib im leeren Raum trieb er dahin im schwarzen, grenzenlosen Kosmos.Irgendwann, immer noch umnachtet, legte er sich auf den Boden, schloss die Augen und wartete auf das Ende. Er war völlig allein. Die Zeit war verloren. Konturen der Wirklichkeit lösten sich auf. Die Erde drehte sich zurück in ihre Vorgeschichte. Erste Formen des Lebens im Meer blitzten auf, kleine Eidechsen krochen neugierig übers Land. Blitze durchzuckten den heißen Himmel, Lava ergoss sich ins kalte Meer. Ein Beben ging durch seinen Körper. Er war die Erde, die ihn dann endlich stillte. Wellen verklangen im Raum.
Welch eine Auflösung, welch ein Sog ins Nichts!
Wo anfangen, wo enden in diesem endlosen Kreislauf des Seins?
Waren es Visionen des Künftigen oder nur Zerfall des Vergangenen?

So vergeht die Nacht:
Wie ein Vogel mit weiten Schwingen
über dunkle Landschaften gleitet,
nahe am sternlosen Himmel,
bis von Osten her ein Strahl des Lichts
ihn grüßt und empfängt.

Gewesen, verwesen, ist alles gleich,
was war und wird,
und doch so verschieden
in seinem Wesen.
Wer ist es, der schweigend
all dies erträgt?
Sein Antlitz zu schauen
muss grenzenlos sein.

Eine Fliege kroch ihm über die Lippen, er musste nach ihr schlagen. Flüchtig sah er die Spinnweben im Gras, schöne Formen mit winzigen Tautropfen.

 

Teil 2 Südliches Blütenland


4. Alternativen

Was gibt es für Alternativen zu diesem dunklen Szenario der Menschenwelt? Die umfassendste Alternative ist die Natur selbst: sie hat uns hervorgebracht und sie trägt uns durch Not und Finsternis. Sie ist wie eine liebende Mutter, die keine Bedingungen für ihre Liebe stellt; zu ihr kann man immer kommen, egal, wie man ist und was man getan hat. Immer wird man empfangen und gestärkt. In ihr weitet sich der Geist und wird frei von Enge und Berechnungen, von Schwere und Angst, von Verstellungen und egoistischer Hinterlist. Ein Atemzug schon an reiner Luft erhebt das Gemüt, und ein Blick in die Ferne, etwa in der Stille der Berge, lässt spüren, welch ein Frieden und eine Abgelöstheit von den scheinbar notwendigen Sachzwängen in der Seele möglich sind.
Ebenso ein Blick auf das weite Meer bei einem Sonnenuntergang: wenn das rote Licht auf unzähligen Wellen sich spiegelt, der Horizont mit dem Himmel verschwimmt und man das ewig gleiche Rauschen der Wellen gewahrt, worin schon Äonen und Äonen vergangen sind, dann steigt eine Ahnung von Unendlichkeit und Zeitlosigkeit auf, Gefühle übersteigen alte Grenzen und die uns bekannte Zeit der Jahrtausende schwindet zu einem flüchtigen Augenblick eines kosmischen Spiels.

Oder wer kann sich dem Zauber des Frühlings entziehen, wenn das Leben neu zu sprießen beginnt, die Luft erfüllt ist vom Duft der Blüten und frischer Knospen, die Vögel aus allen Kräften singen, als wären sie von der Dämmerung entrückt, und der Raum samt der Erde überquillt vor lebendiger Energie – wen drängt es da nicht zur Liebe? Wie leer dagegen ist ein Börsengewinn!4

So ist das Gehen und Eingehen in die Natur immer ein Finden seiner selbst. Was gibt es Gesünderes zu tun, wenn man Tag für Tag angehalten wird, sich selbst zu verlieren? Die Natur ist völlig jenseits der Werte und Denkweisen, die unsere Kultur prägen. Ihr Wesen entzieht sich unserem Begreifen – was wir an Gesetzen in Formeln gefasst haben, ist nur die Spitze des Eisberges – aber dennoch können wir sie wahrnehmen, weil wir ein Teil von ihr sind. In die Natur gehen, ihre Kraft spüren, ihr Spiel und ihre Abläufe beobachten, auf sich wirken lassen, sich daran erfreuen und erheben, und daraus lernen, das ist die Kurskorrektur und Inspiration, die jedem offen steht. Wir haben noch die Möglichkeit, uns neu zu besinnen. Wie weit wir damit die Welt verändern, liegt nicht ganz in unserer Hand.

Die Menschen haben viele Alternativen entworfen, die andere Lebenswerte und Gesellschaften vorschlagen. Im Abendland sind es etwa Platos Vision einer Gesellschaft ohne Wachstum oder die christliche Tradition mit ihrer Gottes- und Nächstenliebe, oder die hermetische Philosophie, die mit ihrem Satz „wie oben, so unten“ eine universale und subtile Ökologie entwirft, oder das Ideal einer gerechten, kommunistischen Gemeinschaft. Gegenwärtig ist ökologisches Denken sehr am Wachsen, ein auffälliges Beispiel ist die „Gaia-Hypothese“, die die gesamte Erde mit ihren Sphären als ein Lebewesen auffasst.
Auch der Wirtschaft gelten neue Impulse, etwa der Vorschlag, das Prinzip des Wachstums durch „Borgen“ zu ersetzen, wodurch alle Menschen gleichermaßen einbezogen und ein verantwortliches Netz von Geben und Nehmen bilden würden.27

Lebensqualität soll mehr zum Maßstab werden statt Quantität. Menschenbezogene Erkenntnisse wie „emotionale Intelligenz“, „human factor“ oder „soft skills“ finden zunehmend Beachtung. Vernetztes Denken hat Eingang ins „kreative Management“ gefunden und alte Rollen aufgelöst.28

4 Kaum auszudenken, wie es wäre, wenn es keine Vögel mehr gäbe und uns deren Gesang nicht mehr rührte!

Diese modernen Ideen sind sehr nützlich, verändern den Menschen jedoch nicht in der Tiefe, weil sie zuerst den Verstand bedienen. Folgende Beispiele aus anderen Kulturen, die sich mehr die Nähe zur Natur und damit eine innere Lebendigkeit bewahrt haben, können eine größere Inspiration zur Orientierung der inneren Werte bieten. Diese Beispiele sind sehr verkürzt und einseitig: ohne die Kulturen idealisieren zu wollen, greifen sie nur einige positive Errungenschaften heraus, um zu beweisen, wozu der Mensch fähig ist.
Eine solche übergeordnete Perspektive erinnert zugleich daran, dass unsere Kultur in der Menschheitsgeschichte nur eine Randerscheinung bildet und, obwohl sie die Macht an sich gerissen hat und unter der Fahne der Globalisierung ins Zentrum rücken will, ihr Weg zum Überleben nur in der Einordnung in das natürliche Ganze besteht. Dies kann nicht durch verordnete Programme geschehen, sondern nur durch freiwillige und bewusste Änderung jedes Einzelnen.

Ligurischer Frühling

Da ist ein Gefühl in diesem Tal,
wo Räume sich geheim erweiten
und alles wie beseelt vibriert,
wenn Vogelsänge und Blütendüfte von überall
meine Seele zu sich selbst geleiten.

Dies Gefühl ist das Eigentliche von allen,
darin zu sein ist mir das wahre Leben,
während alte Bilder zu Staub zerfallen
und Stimmen der Tiefe sich zart erheben.

Das Gefühl erfüllt mein Herz mit Glauben
so stark, dass es vor Freude weint,
nichts in der Welt kann es mir rauben,
so tief sind wir vereint.

4.1. Die Botschaft der Indianer

„Ich bin das Land,
meine Augen sind der Himmel,
meine Glieder die Bäume.
Ich bin der Fels, die Wassertiefe.
Ich bin nicht hier,
um die Natur zu beherrschen
oder sie auszubeuten.
Ich bin selbst Natur.“

Hopi29

Aus einem Indianer kann man keinen Kapitalisten machen. Indianer ist eine Geisteshaltung und keine Rasse. So eine indianische Selbstdefinition. Die Geschichte gibt ihr recht. Keine andere Bevölkerungsgruppe hat sich einer Integration in die „normale“ Gesellschaft so widersetzt wie die Indianer. Als man etwa einen Stamm zwangsweise aus seinen runden Zelten in „normale“, rechteckige Häuser umgesiedelt hatte, ist er eingegangen.

Der wesentliche Unterschied zu unserer Mentalität liegt im Empfinden der Wirklichkeit. Was für einen Abendländer bloße Mythologie, und damit austauschbar und unverbindlich ist, ist für den Indianer Realität, verbindlich und verbindend, die eigentliche Wirklichkeit, über die unsere gewohnte Welt nur wie ein täuschender Teppich gelegt ist. Der Indianer schaut hinter die Dinge, er spürt deren Einheit. Die Dinge sind ihm nur eine äußere Kulisse einer geistigen Realität. Wenn er etwa im Flugzeug fliegt, denkt er an die „Donnervögel“ seiner Vorfahren. Der Weiße mag darüber lächeln, er wiegt sich in der Sicherheit seines aufgeklärten Wissens, aber er übersieht, dass der Rote eine Gemütshaltung praktiziert, die das Leben erfüllt, weil sie das Innenleben auf eine harmonische Weise organisiert; während das Wissen des Weißen sein Innenleben kaum berührt und er – bewusst oder unbewusst – an einer Leere leidet. Er ist zu jener Gemütshaltung gar nicht fähig. Wenn es ihm gelänge, sein Wirklichkeitsempfinden so umzugestalten, dass er in jenes „magische Bewusstsein“ eintauchte, wäre er ein Indianer. Natürlich ist dieses Bewusstsein auf der ganzen Erde verbreitet; die Indianer sind nur dessen prominentesten Vertreter.

Dem Indianer sind Pflanzen und Tiere Geschwister; wenn er deren Leben nimmt, so bittet er um Zustimmung; die Erde ist ihm eine Mutter, unverständlich der Gedanke, sie zu verkaufen; und alles ist durchdrungen vom Großen Geist, alles ist heilig. Der Gang der Natur vollzieht sich in Zyklen, alles hängt zusammen und ist frei von Hierarchie. Der Mensch als Teil dieses Ganges maßt sich keine Vollmacht an, er ist demütig und sein Wesen ist ihm heilig. Daher schätzt und lebt er die Freiheit; sie ist ihm kein bloßes Wort.30

Freiheit ist frei-willig und unteilbar. Sie kann nicht bei einem bestehen, wenn man sie anderem verweigert. Alle, auch Kinder vom ersten Tage an, haben die gleichen Rechte und werden nicht zu irgendeinem Verhalten gezwungen. Wenn man einer Weisung oder einem Häuptling folgt, ist es aus freier Einsicht. Die innere Wahrheit ist die Richtschnur des Verhaltens und wird von allen akzeptiert, selbst wenn das Verhalten aus dem allgemeinen Rahmen fällt. Die innere Wahrheit ist ganz persönlich und wird in Visionen gesucht. Visionen sind eine Verbindung zum Großen Geist, der auf diese Weise den Weg durchs Leben lenkt. Jeder trägt eine mitgeteilte Lebensaufgabe mit sich, manifestiert in seiner „Medizin“. Wer seinen Weg gegangen ist, gilt im Alter als weise, und sein Inneres ist erfüllt. Auch wenn er von dieser Welt gegangen, ist er im Geiste noch präsent. So bildet der Mensch mit der Natur eine ununterbrochene Gemeinschaft.

Es erscheint wie ein Wunschtraum, aber es hat solche Gemeinschaften gegeben. Das beweist, dass der Mensch zu solcher Lebensweise fähig ist und dass unsere Ideologien sich irren, die dem Menschen selbstverständlich eine egoistische Natur unterstellen. Gewiss hat es auch bei Indianern Egoismus und andere Fehler gegeben, aber es geht hier nicht um eine Gesamtdarstellung dieser Bevölkerungsgruppe, sondern um reale Beispiele, die wichtige Tatsachen über die menschliche Natur offenbaren. Ein Indianer erzählt:
„Eine Gemeinschaft ist von außen unsichtbar – nichts weiter als eine Ansammlung von Menschen. Doch von innen ist sie ein lebendiger Organismus, der sich selbst verwaltet. Weder konstruiert noch geplant; er entwickelt sich einfach – so eine Art Gewächs, das je nach Klima blüht oder zusammenschrumpelt. Eine Gemeinschaft hat keine Institutionen, keine Ämter und äußere Regierung, denn ihre Aktivitäten sind nicht aufgesplittert. Es gibt da nur einen einzigen Weg zu leben, und alle Tätigkeiten sind wie selbstverständlich in diesem Strom, all die Dinge, die für den Menschen lebensnotwendig sind. In den Gemeinschaften, an die ich dachte, wussten die Leute nichts von Gerechtigkeit, Religion, Erziehung, Gleichheit, Kultur oder irgendwelchen anderen dieser großen institutionalisierten Konzepte. Ihre Sprache hat für diese Art Dinge keine Worte. Die Leute selbst sind jedoch gerecht, gebildet, religiös und gleich. Die Leute wissen nicht einmal, dass sie eine Gemeinschaft sind. Das Wort hat keine Bedeutung für sie.“31 Der Indianer hat kein Privateigentum. Was einer hat, das hat die Gemeinschaft. Hier liegt ein tiefer Graben zwischen ihm und dem Weißen. Der Indianer überlebt durch Symbiose und nicht durch Konkurrenz. Heute noch ist Brauch, dass eine Familie einmal im Jahr, bei einem großen Fest zum Andenken der Ahnen, all ihren „Besitz“ verschenkt – auch den Farbfernseher und das Haus. Sie überlebt, weil sie bald selbst eine Beschenkte ist, und kann sich mit gutem Gefühl an die eigene Großzügigkeit erinnern.

Der Stamm der Hopi, den der Dalai Lama als “ das wahre Volk, das imstande ist, mit Lebenskräften umzugehen und die Erde im Gleichgewicht zu halten,“ bezeichnete, betrachtet sich als Hüter eines Wissens über den Zustand und die Entwicklung der Erde, worunter sich auch eine Prophezeiung über den Gang unserer Gesellschaften findet, der zu einer Katastrophe führt. Aber diese ist nur eine Reinigung und überleben werden jene, die eine spirituelle Lebensweise pflegen, „wie sie uns der Große Geist gab: durch Meditation, Demut, Wahrheitsliebe und durch die Ausführung der Gesetze des Großen Geistes“.32

Hopi bedeutet „friedliche Menschen“. Sie wissen, „wie man durch reine Gedanken erzieht, durch gute Vorstellungen und durch sorgfältig ausgewählte Worte. Die Hopi wissen, wie man allen Kindern der Welt den wahren Weg des Lebens zeigt, indem man ein Beispiel gibt, auf eine Weise arbeitet und sich mitteilt, die die Gedanken und die Herzen aller Menschen erreicht, die aufrichtig die Methoden eines einfachen und spirituellen Lebens suchen.“33

„Was wirklich zählt, ist die Schönheit,
die wir in unser Leben bringen,
die Art, wie wir unsere Verantwortung
gegenüber unserem Schöpfer erfüllen.“

Weißer Bär, Hopi

4.2 Abendländische Reflexion

Das folgende Kapitel ist vielleicht nur für diejenigen interessant und verständlich, die bereits selbst Ähnliches gedacht hatten. Wer sich nicht angesprochen fühlt, kann sogleich zum nächsten Kapitel übergehen.

Nachdem die abendländische Zivilisation die indianischen Kulturen fast von der Erde verdrängt hat, ist die Frage angemessen, welchen positiven Beitrag unsere Tradition für die Menschheit noch leisten kann. Die Stärke unserer Kultur liegt offensichtlich in der Rationalität, dem verstandesmäßigen Denken, das sich seit der Antike mit wechselndem Geschick behaupten konnte und in der heutigen Form der Wissenschaft eine ähnliche Macht erlangt hat wie einst die Theologie. Die materiellen Mittel, die dieses Denken hervorgebracht hat, der industrielle Warenreichtum, Waffen und neue Technologien haben zu einer Herrschaft über die ganze Erde geführt. (Wollte das Abendland die Welt allein mit seiner Religion erobern, wäre es hilflos gescheitert.)
Die Indianer dagegen – und andere urwüchsige Gemeinschaften – haben praktikable soziale Modelle hervorgebracht, in denen es den Menschen möglich war, sowohl in Harmonie mit sich selbst als auch miteinander als auch mit der natürlichen Umgebung zu leben und daher in einer ökologischen Gemeinschaft langfristig zu überleben. Unter diesem Aspekt der Stimmigkeit bilden die Indianer die fortgeschrittenste Kultur der jüngsten Vergangenheit.5

Naheliegend wäre also, die Stärken beider Traditionen zu vereinen und die Botschaft der Indianer seitens unserer Wissenschaft ernst zu nehmen und zu begreifen. Damit würden die indianischen Errungenschaften vor dem Untergang bewahrt und könnten beginnend durch gedankliche Einsicht auf andere Gemeinschaften übertragen werden. Das wäre eine zeitgemäße Tradition.

Dazu müsste sich die Wissenschaft grundsätzlich neu orientieren. Ihren wesentlichen Zug, durch den sie überhaupt lebt und definiert ist, die Erlangung von Erkenntnis, würde sie natürlich beibehalten, aber das Hauptgewicht, das sich bereits heute von der Erkenntnis zur Verwertbarkeit für bestimmte Machtinteressen verlagert hat, an die sich die Wissenschaft verkauft hat – von der Wirtschaft und vom Militär wird der größte Teil der gedanklichen Arbeit verschlungen – dieses Hauptgewicht müsste eine neue Zielrichtung bekommen: die Heilung. Einst war die vornehmste Aufgabe der Wissenschaft, das Denken von der autoritären Theologie zu befreien, die auf ihm lastete wie eine schwere Glocke und den Menschen unmündig machte. Dieser Aufbruch ist eine der wenigen erfolgreichen Befreiungen der Geschichte – wir feiern sie als Beginn der Neuzeit. Nachdem das Denken diese Fesseln abgeworfen hat und heute wieder andere bekommt, die sowohl dem Menschen als auch der Natur Wunden schlagen, ist es die erste Aufgabe einer künftigen Wissenschaft, diese Wunden zu heilen und die verwundenden Ideologien zu widerlegen.6

5 Man könnte die Aborigines als noch fortschrittlicher ansehen, da sie das höchste Gruppenbewusstsein haben, welches in der „Traumzeit“ bis über die Erde hinaus fortgeschritten ist. Ein noch höheres Bewusstsein hat es in keiner anderen uns bekannten kollektiven Form gegeben, sondern nur bei Einzelmenschen, den Mystikern.

6 Seit der bürgerlichen Revolution ist die Einwirkung der herrschenden Ideologie, die sich vom Idealismus zu einem nicht-dialektischen, eindimensionalen Materialismus gewandelt hat, so weit fortgeschritten, dass nunmehr ein verfeinerter Idealismus (der diesen Namen nicht verdient, da er die alte Dualität zwischen Geist und Materie überwunden hat) das grösste und radikalste revolutionäre Potential enthält.

Die Wissenschaft sollte jedoch ihr Ziel nicht dogmatisch anstreben, das wäre eine Wiederholung der alten Form der Unfreiheit. Sie sollte vielmehr spielerisch vorgehen und sich alle Ausflüge gewähren, die ihr Denken erfrischen. Die einzige Bedingung dabei sollte die Ehrlichkeit sein. Sie könnte also weiterhin so entlegene Objekte erforschen wie „Urknall“ und „Schwarze Löcher“, aber sie sollte offen zugeben, dass es aus der Faszination des Denkens geschieht und dass alle bisherigen Ergebnisse nur Hypothesen sind. Die heute so verbreitete Verstellung in Wissenschaft und Politik, dass etwas für etwas anderes ausgegeben wird, nämlich ein Machtinteresse als neutrale Fakten verschleiert wird, darf in einer künftigen Forschung keinen Platz haben.

Eine so befreite Wissenschaft, die vom Ernst ihrer Aufgabe weiß, wird die bisherigen Zersplitterungen aufheben und überall nach gleichen Prinzipien vorgehen. Sie wird nicht mehr zwischen Geistes- und Naturwissenschaft trennen, wissend, dass Geist und Natur eins sind, und sie wird auch die bisherigen Naturwissenschaften einen, weil in keinem Bereich von Ganzen abgesehen werden kann. Dieser Wandel geschieht nicht durch dogmatische Verordnung, sondern ergibt sich notwendig selbst aus der Erkenntnis der Sache, je feiner und differenzierter das Erkenntnisvermögen wird.

Als heilende Wissenschaft wird sie unmittelbar an die bisherige Medizin und die bisher subtilste Mechanik, die Quantenmechanik anknüpfen. Sie wird eine erweiterte Anatomie und Physiologie des Menschen aufstellen. Dabei wird klar, dass die heutige Medizin auf halbem Wege stehengeblieben ist. Vom künftigen Standpunkt wird sie so unvollkommen erscheinen, wie uns heute eine Medizin unvollkommen erscheint, die nichts vom Blutkreislauf oder Zellen weiß. Die Erweiterung geschieht durch Einbettung des materiellen Körpers in ein subtiles, lebendiges Feld, welches den Körper erbaut und seine Arbeit organisiert. Es umgibt und durchdringt den Körper und fasst seine Organe und Bereiche in einer für uns ungewohnten Weise zusammen. Neue Zusammenhänge werden sichtbar, ungewöhnliche Heilungen werden nachvollziehbar. Dieses Feld außer Acht zu lassen, wie heute der Fall, ist eine ebensolche Illusion, wie wenn man ein Haus bauen wollte, ohne Gerüst, Bauplan und Handwerker zu haben.

Die Kenntnis dieses Feldes wird die konkrete Situation des Menschen offenbaren und den Ursprung vieler, vielleicht aller Krankheiten erkennen lassen. Es wird klar, dass der heutige Mensch auf dieser subtilen Ebene unter einer Verzerrung leidet, die so massiv ist wie eine körperliche Verkrüppelung. Fehlhaltungen und dauernde Verspannungen sind ein äußerer Ausdruck davon. Könnte der Mensch diesen inneren Teil seiner selbst wahrnehmen, würde er es nicht eher wagen, auf die Straße zu gehen, bis er sich innerlich in Ordnung gebracht hat. Das bisherige Gesellschaftssystem profitiert gerade von der Unfähigkeit zu dieser Wahrnehmung.

Wenn nicht nur der Organismus, sondern auch seine Selbstwahrnehmung verzerrt ist und zudem der Maßstab für einen gesunden Zustand fehlt, scheint eine Rückkehr in den natürlichen Normalzustand unmöglich, denn wie soll innerhalb einer allseitigen Verzerrung eine richtige Richtung gefunden werden? Es ist erstaunlich, dass ein solcher Mensch überhaupt noch lebt und nicht durch innere Dissonanz bereits zerfallen ist. (Vielleicht ist dies gerade am Geschehen.) Die Rückkehr könnte durch eine bewusste Übung gelingen, bei der der Organismus wiederholt ein kontinuierliches Spektrum von Zuständen durchläuft, bis sich ein Gefühl für unterschiedliche Harmonien innerhalb der Zustände einstellt (denn irgendwo ist immer noch ein Körnchen ursprünglicher Information aufbewahrt) und dann das ganze System sich auf die harmonischsten Zustände einpendelt.

Die neue Anatomie und Physiologie werden den Menschen erkennen als ein komplexes System von Programmen und energetischen Strukturen, die sowohl seinen momentanen, subjektiven und objektiven Zustand bestimmen, als auch seine Wandlungen in den Phasen seines individuellen Lebens. Stimmungswandlungen, Lebenskrisen, Alter und Tod werden verständlich. Doch auch wenn viele alte Rätsel gelöst werden, so wird sich immer ein Teil der menschlichen Beschaffenheit der Selbsterkenntnis entziehen, zumindest bei dem bisherigen Grad des Bewusstseins, und damit das Denken stets für Höheres offen halten.

Die Forschung wird ein vertieftes Wissen über Entstehen und Vergehen abstrakter Strukturen bzw. Muster entwickeln. Dabei werden alle einzelnen Wissenschaften, die empirisches Material liefern können, mit der Mathematik zusammen arbeiten. Folgende Punkte werden beispielsweise unser Denken erweitern:

1. An der Entwicklung von Strukturen zeigt sich die völlige Relativität der Zeit: derselbe Zustand, der aus einer Perspektive als eine kurze, vorübergehende Phase erscheint, ist für eine andere Perspektive ein Dauerzustand.

2. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, der den endgültigen Zerfall aller Strukturen in geschlossenen Systemen behauptet, wird als Projektion linearen Denkens erkannt, welches das offene Durchdrungensein aller Systeme mit subtilen Feldern übersieht.

3. Wenn klar wird, wie sich aus einem wenig differenzierten Feld, einem Plasma, Strukturen entwickeln, die miteinander wechselwirken, und wie sie sich auf natürliche Weise auflösen, kann endlich die Frage beantwortet werden, ob und wie durch gezielten Eingriff Muster aufgelöst werden können, was normalerweise unmöglich ist, da nur eine Verlagerung stattfindet. Damit werden so schwer greifbare Strukturen wie Angst in ihrem Sinn verständlich und in der Tiefe behandelbar. Körperliche Störfelder, die durch Verletzung entstanden sind, können als Angst des Körpers angesehen werden. Das umfassende Wissen wird natürlich nur solche Gesellschaftssysteme fördern, wo Angst gar nicht erst entsteht.

Die Wissenschaft der Strukturen wird genetische Prozesse erklären, von der Entstehung der Arten bis zur Entstehung der Gesellschaften, und der Verlauf des individuellen Lebens wird nachvollziehbar sein. Doch das Wissen wird nicht zur Herrschaft verführen, da es von deren Schattenseite weiß, sondern zu einer demütigen Teilnahme. Die Forschung wird nicht wuchern und alles erfassen wollen, etwa eine Ökologie des gesamten Kosmos, denn wo es auf ein Sich-Einfügen ankommt, sind wissenschaftliche Theorien überflüssig.

Die neue Wissenschaft wird vor allem die Fortsetzung des alten griechischen Satzes sein:
„Erkenne dich selbst“. Mit genetischem Feingefühl wird sie feststellen, dass jeder Mensch eine multiple Persönlichkeit ist, die sich aus gelebten Partikeln der Menschheitsgeschichte zusammensetzt. Jeder Mensch ist eine neue Komposition dieser Partikel, die seine psychische und körperliche Verfassung bestimmen und deren Übertragung nicht eine bloß lineare Wiedergeburt ist, sondern eher der körperlichen Vererbung mit ihrer Vielzahl an Genen entspricht, wobei hier mehr als zwei Eltern möglich sind.
Es wird als Aufgabe und Sinn des Lebens empfunden, in der persönlichen Entwicklung diese Komposition bewusst und neu zu gestalten, störende Partikel aufzulösen oder auszuscheiden und andere durch harmonisches Gelebt-Sein miteinander zu verschmelzen. Das wird die Hauptarbeit eines jeden Menschen sein. Daraus ergibt sich eine Ahnung von der Aufgabe der gesamten Menschheit.

Mit noch größerem genetischen Feingefühl wird die Wissenschaft begreifen, was die Wirklichkeit des Menschen ist und wie er sie selbst erschafft. Dabei wird sowohl das physiologische Zusammenspiel der verschiedenen Gehirnzentren und anderer Organe einbezogen, als auch der Zusammenhang des Menschen mit dem ihn umfassenden Kosmos.7

Nachdem endlich verbindliches Licht in diese abgründige Frage der Wirklichkeit gebracht ist, ergeben sich elementare philosophische Konsequenzen darüber, welche Voraussetzungen unser Denken sinnvoll machen kann und muss. Die Dualität zwischen Subjekt und Objekt wird aufgehoben und beide werden mit deren Vermittlung , der Wahrnehmung, vereint. Damit werden endlich auch die fortgeschrittensten, nichtdualistischen Traditionen, die den Grad des Bewusstsein erhöhen, begriffen und verwirklicht.

All dieses Wissen – und die Suche danach – soll dazu dienen, den Menschen zu verändern. Denn immer noch gilt der Satz, dass es darauf ankommt, die Welt zu verändern und nicht nur verschieden philosophisch zu interpretieren. Der Geist der Aufklärung, der aus diesem Satz spricht, hat seine Arbeit noch nicht vollständig getan. Doch auch hier wirkt eine Dialektik, dass dieses Wissen, welches den Menschen verändern soll, erst durch einen bereits veränderten Menschen hervorgebracht werden kann.
Ein Wissenschaftler, der gewohnheitsmässig lügt, seine Frau misshandelt, oder sonstwie seinem Ego freien Lauf lässt, taugt nicht für die neue Wissenschaft. Nicht aus moralischen Gründen, sondern weil er sich in einer geistigen Verfassung befindet, die eine subtile Erkenntnis nicht zulässt. (Nachdem sich die Männer so gut in ihren alten Rollen eingenistet haben, könnte man sich fragen, ob nicht Frauen für die neuen Aufgaben besser geeignet wären; aber auch diese Dualität muss überwunden werden.)
Diese Bedeutung der menschlichen Parameter für die Erkenntnis ist eine konsequente Fortsetzung der Einbeziehung des Beobachters, die mit der modernen Physik begonnen hat. Während es in der Relativitätstheorie auf das bloße Dasein eines Beobachters ankam und er in der Quantenphysik durch sein Beobachten (Messen) die physikalischen Objekte festlegte, kommt es nun auch noch auf seine Qualität an, auf seine menschlichen Eigenschaften. Das ist natürlich für eine abendländische Tradition eine große Hürde, denn es widerspricht völlig der eingefleischten „Objektivität“ des wissenschaftlichen Denkens und zieht zugleich eine sehr unbequeme Frage nach sich: wer wird für die gesellschaftliche Arbeit, die das offizielle Spielfeld des Ego ist, sein Ego zügeln wollen?

Ein Ausweg aus diesem Dilemma könnte die Untersuchung einer Frage sein, zu der schon die heutige Wissenschaft im Stande ist und die den Kreis schließen würde: welche geistige Verfassung kennzeichnet einen Indianer – oder einen anderen Natureinwohner – gegenüber dem modernen Abendländer? Es ist die Fähigkeit, zu glauben. Sie ist jedem Indianer so selbstverständlich, dass er sie gar nicht wahrnimmt, während sie dem gewöhnlichen Abendländer so selbstverständlich fehlt, dass er es nicht merkt und eine Kraft zum Glauben auch gar nicht vermisst.
Das Neue ist, diese Frage mit ernsthaftem Interesse nicht der Theologie, sondern der Wissenschaft vorzulegen, etwa der Medizin, die nach sachlichen, physiologischen Antworten suchen könnte. Der Glaube ist im Abendland zu einer bloßen Meinung geworden, zu etwas Unverbindlichem und Austauschbarem, es scheint sich nur um eine Beziehung zu Information zu handeln: man kann jemandem glauben oder auch nicht, man kann an Gott glauben oder auch nicht. Das ist aber nicht das Wesentliche. Jeder, der die Erfahrung darin hat, wird bestätigen, dass glauben ein existentieller Prozess ist, der konkrete Auswirkungen auf das Leben hat. Hilfreich wäre es, nicht mehr von „der Glaube“ zu sprechen, was ein ziemlich abstraktes Substantiv ist und in vielen Phrasen zu nichtssagender Floskel abgedroschen wurde, sondern von „das Glauben“, womit eine konkrete Tätigkeit zum Ausdruck käme. In einer Physiologie des Glaubens stellen sich die Fragen: Was ist Glauben, wie kann es verloren gehen und wie kann es wieder erworben werden? Konkrete Antworten würden konkrete gesellschaftliche Folgen haben. Eine erfolgreiche Hilfe durch diese Fragen würde die Menschheit mehr verändern als die Erfindung der Dampfmaschine oder der Atombombe. Dann endlich wäre die Botschaft der Indianer würdig empfangen und ausgetragen.

7 Ein funktionierendes Zusammenspiel der Hirnzentren ist der physiologische Ausgangspunkt des gesellschaftlichen Funktionierens und gibt diesem ein vages Gefühl der Berechtigung.

Unsere Wissenschaft tut sich schwer mit Fragen des Glaubens, sobald sie es auch selbst praktizieren soll, denn sie entstand gerade durch die Befreiung von einer bestimmten Geisteshaltung, die sich ebenfalls „Glaube“ nannte. Es wurde als Fortschritt angesehen, ganz ohne „Gott“ auszukommen. Mit Stolz konnte einst der Mathematiker Laplace gegenüber Napoleon verkünden, dass er diese Hypothese nicht mehr bräuchte. Der Atheismus ließ in der Tat eine reinere Luft atmen als die durch katholische Dogmen und physische Gewalt verdunkelte geistige Atmosphäre vieler Jahrhunderte. (Der Atheismus ist eine logische Folge dieser geistigen Unfreiheit und daher trägt die katholische Kirche die Hauptverantwortung für die schädlichen Auswüchse der heutigen Geisteshaltung.) Nachdem nun der kapitalistisch besetzte Atheismus selbst die Luft verpestet, wird es Zeit für einen nächsten Schritt.

Für ein rationales Denken wäre es eine Illusion, Glauben grundsätzlich auszuklammern, denn unser ganzer Alltag ist von elementaren Glaubensprozessen durchdrungen, die als solche gar nicht wahrgenommen werden. Fast jede Tätigkeit, die wir beginnen, wird zum Beispiel von dem Glauben begleitet und getragen, dass wir sie zu ihrem Ziel führen können. Wenn wir etwa einen Löffel zum Mund heben, glauben wir, dass der Löffel beim Mund ankommen werde. Was wir nicht glauben, das gelingt uns nicht. Eine ehrliche Wissenschaft kann Glaubensprozesse also nicht grundsätzlich ignorieren und sollte daher genauer schauen, um was es sich da handelt.
Dieses elementare, unbewusste Glauben ist natürlich schnell zugestanden, aber interessant wird es bei einem bewussten Glauben, wo die Dimensionen sich erweiten. Ist da ein kontinuierlicher, physiologischer Übergang von elementarer zu höherer Ebene?
Das bewusste Glauben braucht nicht notwendig ein Objekt, an das man glaubt, es ist in der Essenz ein Sich-Öffnen, ein Durchlässig-Sein, ein Sich-Hingeben und Empfangen, ein Angeschlossen-Sein an eine Energie, die den Grad des Bewusstseins erhöht. Es erfordert Kraft und setzt eine weitere Kraft frei. Kann eine Physiologie dies noch genauer beschreiben, so dass wir sofort erkennen, dass es sich nicht um bloße Ideologie handelt, sondern um notwendige Prozesse des Lebens?

Wenn die Wissenschaftler diese Fragen erforschen und leben würden, würden sie sich wandeln. Dann, als Kenner des Feldes, welches alles Wissen zu einer neuen Physik macht, könnten sie voranschreiten zu der Frage, ob es auch eine sinnvolle Metaphysik gibt, die mit ebensolcher Überzeugungskraft die übrigen Fragen der Menschheit nach dem Woher und Wohin des Lebens beantworten und somit auch den Kreis zu antiken Mysterien schließen würde. Wenn auf diesem Wege das höhere Bewusstsein nicht nur bei Einzelnen vorkäme, sondern ein Allgemeingut würde, entstünde eine Gemeinschaft auf Erden mit einem solchen Lebensgefühl, welches wir uns in kühnsten Träumen nicht vorstellen können.

4.3 Orientalische Impressionen

„Pflege bei allem, was du tust, das Nicht-Tun;
handle, ohne einzugreifen;
genieße das, was keinen Geschmack hat.“34

Vieles, was die Indianer spontan tun, wird im Orient auf den Begriff gebracht. Die indianische Haltung des Nicht-Einmischens, die sich aus dem tiefen Respekt vor der Freiheit ergab, heißt im Taoismus „Nicht-Tun“. Damit ist keine Passivität gemeint, sondern die Unterlassung des egoistischen Eingreifens in natürliche Prozesse – ein spontanes Handeln, frei von jeder Berechnung. Die Vorstellung dahinter ist, dass die Natur – oder das ihr zugrundeliegende, unaussprechliche „Tao“ – die eigenen Abläufe auf eine vollkommene Weise organisiert, worin der Mensch, wenn er einen beschränkten Blickwinkel hat, nur als Störung wirkt. Die Ökologie erhält sich am besten, wenn sie eigenen Gesetzen folgt. Der Mensch darf aktiv beitragen, aber er muss sich einfügen. Für seinen Drang nach Macht und Machen, das, was ihm schmeckt, ist es ein Nicht-Tun, das, was keinen Geschmack hat. Das bekommt auch seiner Seele gut, die durch teilnehmen an einer umfassenden Ordnung wieder zu sich selbst findet.
Die orientalischen Philosophien haben nicht das Denken vom Erleben getrennt. Das Denken ist nicht Selbstzweck, sondern soll der Umgestaltung der äußeren und inneren Welt dienen, deren Erleben immer erfüllender wird.
„Die Harmonie der unwandelbaren Prinzipien des Universums zur Harmonie der Prinzipien in seinem eigenen Leben zu machen, ist weit mehr als nur ‚poetisches‘ Ideal – es ist das Ideal des platonischen ‚Kosmos‘, endlich in der menschlichen Wirklichkeit etabliert. Es ist das Ideal, dessen Verwirklichung als einziges zu einem menschenwürdigen Leben unter dem Menschen würdigen Bedingungen führt.
Wenn es also gelänge, das Bewusstsein des Menschen von seinem gegenwärtigen Sein abzulösen, es darüber zu erheben und mit den Idealen auszustatten, die ihm die Unzulänglichkeit seiner bisherigen Existenzformen deutlich vor Augen führte, wäre damit der Grundstein zu einer Veränderung des Seins gelegt, der allen Angriffen eines aufsässig-widerstrebenden Chaos jetziger, materialistischer Verirrung des Verständnisses der Welt mühelos trotzte und als Ausgangspunkt und Fundament des Aufbaus einer neuen Wirklichkeit diente.“35

„Wer nach Wissen sucht,
weiß mit jedem Tag mehr;
wer den Weg sucht,
tut mit jedem Tag weniger.
Weniger, immer weniger ist zu tun,
bis man beim Nicht-Tun ankommt.
Ist man beim Nicht-Tun angekommen,
bleibt nichts ungetan.
Wer die Welt gewinnen will,
mischt sich nicht in die Dinge ein.
Wer sich in die Dinge einmischt,
ist der Aufgabe, die Welt zu gewinnen,
nicht gewachsen.“36

So wie Denken und Erleben nicht voneinander getrennt sind, so sind auch die Gegenstände des Denkens nicht getrennt. Das Tao-Te-King vermengt Anleitungen zur Erlangung persönlichen Heils mit sozialen Regeln.

„Erkenne das Männliche,
aber bewahre das Weibliche,
und sei eine Zuflucht für die Welt.
Bist du eine Zuflucht für die Welt,
wird dich das ewige Leben nicht verlassen,
und du wirst wieder sein wie ein Kind.

Gib die Findigkeit auf
Und verzichte auf Gewinnsucht,
und Räuber und Diebe werden verschwinden.“37

Wenn schon der Gemeinschaft Regeln gegeben werden müssen, dann sollen sie so umfassend sein, dass kein Egoismus sie missbrauchen kann. Der Buddhismus betont das Mitgefühl mit allen Lebewesen der Erde; täglich belebt er es in seinen Gebeten neu. Der Hinduismus verlangt Gewaltlosigkeit und Wahrheitsliebe – was man damit erreichen kann, hat Gandhi gezeigt. Die Gemeinschaft soll als Ganzes der Entwicklung seiner Teile, der einzelnen Menschen dienen, und die Erlangung derer Lebensziele – ob Verlöschung der leidvollen Kreisläufe oder selige Vereinigung mit dem höchsten Sein – fördern und ermöglichen. Natürlich sind auch orientalische Gesellschaften nicht vollkommen, aber auch hier haben Beispiele bewiesen, dass deren Ideale verwirklicht werden können.

Wohin diese Ideale führen können und wie sehr sich Bewusstsein weiten kann, zeigt ein Erleuchtungserlebnis des indischen Weisen Ramakrishna:
„Die verschiedenen Teile der Gebäude, der Tempel und alles andere verschwanden spurlos vor meinen Augen. Stattdessen sah ich einen Ozean des Geistes, grenzenlos, unendlich, blendend. Soweit mein Blick reichte, sah ich glänzende Wogen, die von allen Seiten her sich erhoben und mit schrecklichem Rauschen auf mich niederbrandeten, als wollten sie mich verschlingen. Ich konnte nicht mehr atmen. Vom Wirbel der Wogen erfasst, stürzte ich leblos hin. Was in der äußeren Welt vor sich ging, wusste ich nicht. Mein Inneres wurde von einer stetigen Welle unaussprechlicher, mir noch völlig unbekannter Glückseligkeit durchflutet….“38

Hier ist keine Spur mehr von Angst oder ökonomischen Werten – diese Geistesverfassung ist das völlige Gegenteil des reduzierten Menschen. Wer sie einmal kostet, kann nicht daran zweifeln, dass sie wertvoller ist als materieller Besitz und all die anderen Dinge, die unsere Süchte befriedigen. Eine Gesellschaft, worin die Erlangung dieses Zustands einen Wert darstellt, wäre menschenwürdig und der Menschheitsgeschichte angemessen.

Da es noch nicht so weit ist, muss jeder seinen Weg selbst suchen.

„Wer leichten Schrittes die Welt durchmisst,
der wird von ihr auch nur leise berührt.
Wer sich einlässt auf die Ränke der Welt,
der wird tief in ihr Getriebe verstrickt.“39

„Wer nicht handelt, dem steht die Welt zur Verfügung und er hat Überfluss.
Wer handelt, der steht der Welt zur Verfügung und hat Mangel.“40

„Beim Umherstreifen in Berg und Wald,
zwischen Quellen und Gestein,
kommt das vom Staub der Welt beschmutzte Herz
langsam zur Ruhe.
Bei mußevoller Beschäftigung mit Gedichten und Büchern,
Malereien und Zeichnungen
Klingt der Geist der Gemeinheit mählich aus.
Also auch der Weise:
Er macht sich nichts aus materiellen Dingen
Und gibt seinen freien Willen deshalb nicht auf.
Er begibt sich in ein anderes Land
Und bringt das Herz in Ordnung.Bilden sich keine Wellen,
klärt das Wasser sich von selbst.
Legt sich kein Schatten darüber,
glänzt der Spiegel von selbst.
Also ist das Herz nicht rein zu machen,
denn wenn nur alles Trübende vermieden wird,
kommt Reinheit ganz von selbst.
Also ist Freude nicht unbedingt zu erstreben,
denn wenn alles Leidbringende vermieden wird,
kommt Freude ganz von selbst.

Geht der Atem von Himmel und Erde warm,
so bewirkt das Wachstum,
geht der Atem von Himmel und Erde kalt,
so bewirkt das Verfall.
Daher ist die Freude eines teilnahmslosen Menschen
noch nicht einmal lauwarm.
Nur einem freundlichen und warmherzigen Menschen
wird auch ein gütiges Schicksal zuteil
und Freude, die dauerhaft ist.

Ist der Lärm der Welt verklungen
und du hörst plötzlich den munteren Sang
eines einzelnen Vogels,
werden dir dadurch viele Geheimnisse offenbart.
Sind alle Gräser welk und abgestorben
und dein Blick fällt plötzlich
auf einen einzelnen blühenden Zweig,
wirst du der Grenzenlosigkeit der Lebenskräfte gewahr. „39

4.4. Eine persönliche Geschichte
– geschrieben im Sommer 1999 auf einem Bauernhof

Was der Hahn mir erzählte

Wenn ein Hahnschrei die Nacht durchschneidet, hat man die Wahl, aufzuwachen und mit den Tieren den Tag zu beginnen, oder sich müde im Bett umzudrehen, zurück zu Träumen, wie alle anderen Menschen, und schweren Kopfes weiter zu schlafen, bis gewohnte Pflichten den unmerklichen Schlaf in selbstvergessene Geschäftigkeit des Tages verwandeln. Als Kind habe ich auf dem Lande den Hahnschrei oft gehört, er war mir so selbstverständlich wie der Wind, und an irgendeine Wahl habe ich dabei natürlich nicht gedacht, denn alles verlief so geradlinig und fraglos notwendig, wie mir auch die ganze Welt erschien. Wenn ich mit den Hühnern spielte, hinter ihnen herlief und über ihr Geschrei lachte, sie fing, als sie sich duckten, ihren warmen Kopf an mein Ohr hielt, um ihren Atem zu hören, es genoss, wie sie dabei immer ruhiger wurden, nachdem sie anfänglich verstört um sich geblickt hatten, soviel ruhiger, dass sie ihren Kopf manchmal zu verstecken suchten und fast einschliefen, dann dachte ich mir nichts dabei; es war einfach ein wohltuendes Spiel, vielleicht sogar für die Hühner, so wie auch das ganze Leben überwiegend wohltuend und einfach war.
Jahre später in einer großen Stadt, als ich bewusst zu denken begann und daran Freude hatte, waren keine Hühner mehr da, Häuser und Straßen säumten meinen Horizont, hoffnungslos wären da Hühner unter Räder geraten, das wäre kein Spiel mehr, und auch wenn ich sie immer noch gern an mich gedrückt hätte – wäre es doch eine lebendige Berührung der Kindheit – so war ich schon derart von mir entfremdet, dass es mich wohl noch mehr fasziniert hätte, die Tiere in ihrem Verhalten zu beobachten und irgendwelche Gesetze zu erkennen, etwa eine Hackordnung, die möglichst in einer Tabelle festzuhalten wäre, oder andere angeborene Regungen von menschlichen Artefakten zu unterscheiden; dieser Zugang wäre mir wohl ernsthafter, erfüllender und dem Menschen angemessener erschienen als jenes gedankenverlorene Lauschen eines harmlosen Hühneratems. Doch es liefen mir keine Hühner mehr über den Weg, also stellte ich andere Tabellen auf, berechnete die mir vorgesetzten Aufgaben und verbrachte viele Jahre damit. „Messen, was messbar ist, und messbar machen, was sich nicht messen lässt“, hatte einst Galilei gesagt und damit ahnungslos unserer Kultur eine Leitlinie vorgegeben, deren Folgen wir alle spüren: unser Leben ist vermessen, unsere Leiber sind gewogen, unsere Atemzüge sind gezählt und verkauft.

Heute Nacht, wieder auf dem Lande, erwachte ich von einem Hahnschrei. Es gelang mir nicht sogleich aufzuwachen, aber neben leichtem Ärger über die Störung spürte ich auch Freude über diesen Ruf der Natur. Fast als hätte mich die Zeit zurückgerufen. Bei Tag schaute ich den Tieren wieder zu und erkannte viel Vertrautes: die vollkommenen Bewegungen, die so viel inneres Gleichgewicht und eine Harmonie des Körpers ausstrahlen, das ebenso vollkommene Gefieder, das alle Bewegungen gleitend mitmacht, die unschuldigen Gemüter, die nur ans Essen denken und zu keiner Verstellung oder Bosheit fähig sind, die ruhigen und sanften Töne, die sie gesättigt, wie aus Überfluss des Wohlgefühls von sich geben, überhaupt die Vielfalt ihrer Sprache, die alle natürlichen Regungen zu umfassen scheint – es war wie Balsam, all dies in sich aufzunehmen.

Gewiss habe ich es auch als Kind genossen, nur das Bewusstsein dabei fehlte mir. Habe ich daher damals etwa weniger gefühlt? Wohl eher umgekehrt, denn das Bewusstsein eines Erwachsenen scheint eine Distanz zu erzeugen, die den Menschen zum sachlichen Beobachter macht, während das Kind unmittelbar am Geschehen teilnimmt. Habe ich nun also einen Gewinn oder einen Verlust zu verzeichnen? Das distanzierte Bewusstsein erweitert beträchtlich den Umfang der Erkenntnis und ermöglicht, etwas zu durchdenken und zu verstehen; das ist ein Gewinn, aber muss damit unweigerlich eine Verminderung des Gefühls einhergehen? Es muss doch möglich sein, dass das Bewusstsein während einer Wahrnehmung das Gefühl noch steigert, wenn der Wahrnehmende und das Wahrgenommene einander ganz nahe sind und im inneren Gleichklang fast verschmelzen. Vielleicht ist es eine bloße Gewohnheit, die alle Erwachsenen zu befallen scheint, die Gefühle auf ein Mindestmaß für das alltägliche Funktionieren zu reduzieren. Ist dann aber nicht auch das begleitende Bewusstsein, das sich nur in Routinen bewegt, ebenso reduziert? Die glücklichen Hühner stellen sich solche Fragen nicht ….
Ich wandte mich wieder den Tieren zu. Ein Huhn war zutraulich und fraß mir aus der Hand. Ich fing es und hob es zum Ohr. Trotz der ungewohnten Haltung , es lag fast auf dem Rücken, die Beine in die Luft gestreckt – dem Menschen wohl ein Bild des Ausgeliefertseins und zugleich einer Geborgenheit – war es bald ruhig und atmete entspannt. Ich lauschte. Der Atem tönte tief und lang. Ein leichtes Zittern ging durch den Körper. Der Kopf war lebendig warm. Gelegentlich zappelten die Beine ein wenig, was meine Heiterkeit erregte. Bald beruhigte sich auch das. Wir verblieben eine Weile in dieser gegenseitigen Aufmerksamkeit. Immer wieder sank der Kopf leicht nach unten und die Augenlider fielen zu. Aber das Huhn blieb wach. Als wollte es mich etwas fragen, entwich ihm ein tiefer Ton. Es beklagte sich nicht, es sagte nicht, dass es für derlei Spielereien und Unsinn keine Zeit habe, dass es doch etwas Wichtigeres zu tun habe, Termine und Ernst des Lebens. Wir hatten beide nichts Wichtigeres zu tun, keine Tabellen zu kalkulieren – in dieser Freiheit waren wir eins. Beim Lauschen war mir fast, als wäre ich das Huhn selbst: ein sehr erholsames Gefühl. Irgendwann – immer noch seinen Atem in mir spürend – stellte ich es auf den Boden, es schnappte sofort nach einer Fliege und ging davon, als wäre nichts geschehen.Seit meiner Kindheit sind Hühner gleich geblieben, wie zeitlos blicken sie auf den Wandel der Jahreszeiten, sorglos gehen sie täglich ihren Bedürfnissen nach, mit gleichem Verhalten zueinander haben sie menschliche Kriege und Krisen überstanden, aber ich habe mich in der Zeit mehrmals gehäutet und gewandelt, immer wieder gefangen von Angst. Wenn ich heute den Hühnern zuschaue, spüre ich, dass der Mensch sich dabei vergessen könnte, seine Hüllen abstreifen könnte, dass er die Fähigkeit hat, in andere Wesen hineinzuschlüpfen, sich einzufühlen – eins zu sein – dass er auf diese Weise Natur erkennen kann und dass gerade dies ihm angemessen und daher auch erfüllend ist. Nun ist mir klar, dass jene Haltung, die das Einfühlen als kindisch und überholt abtat und die Welt mit exakten Tabellen erfassen und regieren wollte, selbst die kindische und überholte ist, auf die die Menschheit irgendwann mit Verständnis und Mitleid zurückblicken wird. Soweit bin ich bis heute gekommen, während die Hühner stets sich selbst gleich geblieben sind. Und was werde ich morgen sagen?
Während ich dies schreibe, kommt der Hahn mehrmals nah auf mich zu, schaut mir fest und wie bewusst in die Augen und kräht. Erstaunt höre ich ihn an. Das letzte Wort in diesem Jahrtausend hat nicht Galilei.

 

Anmerkungen

1. in: 34. S 268
2. Für die nachfolgende Abkehr von inneren Werten ist die katholische Kirche mitverantwortlich, weil sie mit ihrer oft unehrlichen und gewaltsamen Art das tiefe Bedürfnis der Menschen nach Sinngebung und Innerlichkeit nicht erfüllte und so den befreienden Materialismus attraktiv machte.
3. in: 29. S. 68ff
4. in: 9. S.26,28
5. in: 31 S. 119
6. s.o. S 137
7. s.o. S.142
8. s.o. S.144
9. s.o. S. 141
10. in: 5. S. 23
11. in: 12. S. 23ff
12. in: 32. S. 11f
13. in: 1. S.46
14. in: 9. S.182
15. s.o. S. 180
16. in: 1. S 77
17. in: 9. S. 162
18. in: 5. S.98
19. in: 14. S.17,29
20. in: 9. S.166
21. in: 5. S. 21
22. in: 9. S. 183
23. in: 14. S. 21
24. in: 1. S. 48,50
25. in: 14. S. 62ff
26. in: 2. S. 20
27. in: 30. S.117
28. in: 4. S.119ff
29. in: 6. S. 34
30. Es kommt nicht auf die Namen an, sondern auf deren innere Realität, die Bedeutung, die man spürt und glaubt. Auch in unserer Tradition gibt es solche Namen, aber sie sind meist nicht im gleichen Maß gefüllt und gefühlt wie bei den Indianern. Allzuleicht überträgt man das eigene Gefühl auf andere und hält auch deren Namen für bedeutungsleer und wendet sich mit einem Gefühl der Überlegenheit ab. Das wäre das Ende der Auseinandersetzung um innere Werte.
31. in: 25. S. 194f
32. in: 6. S. 163
33. s.o. S. 311
34. in: 15. Nr. 63
35. in: 8. S. 29f
36. in 15. Nr. 48
37. s.o. Nr. 28,19
38. in: 16. S. 59
39. in: 13. S. 29,130,85,56,149
40. in: 17. S. 146 Nicht handeln = Nicht-Tun

 

Literatur

1. Bauer, W.M. : Die Tyrannei des Wohlstands, Fischer 1988
2. Bellak, L. : Was zuviel ist, ist zuviel, Econ 1981
3. Berman, M. : Wiederverzauberung der Welt, Rowohlt 1985
4. Binnig, G. : Führen und sich führen lassen, in : Denkanstösse ´92, Piper 1991
5. Binswanger, H.C. u.a. : Wege aus der Wohlstandsfalle, Fischer 1981
6. Buschenreiter,A. : Unser Ende ist euer Untergang, Goldmann 1987
7. Capra, F. : Wendezeit, Scherz 1986
8. Eichler, N.A. : Das Buch der Wirklichkeit, Rowohlt 1990
9. Eurich, C. : Die Megamaschine, Luchterhand 1991
10. Fromm, E. : Die Furcht vor der Freiheit , Ullstein 1983
11. Fromm, E. : Haben oder Sein , dtv 1979
12. Gruen, A. : Der Wahnsinn der Normalität, dtv 1989
13. Hung Ying-Ming : Saikontan – Vom weisen Umgang mit der Welt, O.W. Barth 1988
14. Illich, I.: Fortschrittsmythen, Rowohlt 1983
15. Lao Tse : Tao-Te-King, Diogenes 1985
16. Lemaitre, S. : Ramakrishna, Rowohlt 1963
17. Dschuang Dsi: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, Diederichs 1998
18. Liedloff,J. : Auf der Suche nach dem verlorenen Glück, Beck 1980
19. Lohmann, H. : Krankheit oder Entfremdung?
Psychische Probleme in der Überflußgesellschaft, Thieme 1978
20. Lorenz, K. : Der Abbau des Menschlichen , Piper 1983
21. Marcuse, H. : Der eindimensionale Mensch, Luchterhand 1967
22. Marx, K. : Ökonomisch-philosophische Manuskripte, Fischer 1971
23. Packard, V. : Die große Versuchung, Der Eingriff in Leib und Seele, Econ 1978
24. Pauwels, L., Bergier, J. : Aufbruch ins dritte Jahrtausend
Von der Zukunft der phantastischen Vernunft, Scherz 1962
25. Pelletier. W. : Frei wie ein Baum, Diederichs 1981
26. Pietschmann, H. : Das Ende des Naturwissenschaftlichen Zeitalters, Ullstein 1983
27. Postman, N. : Das Verschwinden der Kindheit, Fischer 1993
28. Postman, N. : Wir amüsieren uns zu Tode, Fischer 1992
29. Rifkin, J. : Genesis zwei, Rowohlt 1988
30. Rifkin, J. : Kritik der reinen Unvernunft, Rowohlt 1987
31. Rifkin. J. : Uhrwerk Universum, Knaur 1990
32. Runge, A. : Angst am Arbeitsplatz, Kreuz 1990
33. Russell, P. : Die erwachende Erde, Heyne 1984
34. Sambursky, S. : Der Weg der Physik, dtv 1978
35. Satyamayi :Sri Ramana Maharshi, Leben und Werk, H. Schwab 1960
36. Schaeffler, M. u.a. (Hrsg.) : Neues Bewußtsein – neues Leben
Bausteine für eine menschliche Welt, Heyne 1988
37. Schreiber, H. : Die Krise in der Mitte des Lebens, Bertelsmann 1977
38. Shankara : Die Erkenntnis der Wahrheit, ECON 1990
39. Totman, R. : Was uns krank macht, Beck 1982
40. Wickert, U. : Der Ehrliche ist der Dumme, Heyne 1994
41. Zimmer, H. : Der Weg zum Selbst, Diederichs 1981


Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Textes.